Ausland17. November 2021

Eine Kultur des Friedens schaffen

Engagiert für Erziehung, Wissenschaft und Kultur. UNESCO begeht ihren 75. Jahrestag

von Ralf Klingsieck, Paris

Die UNESCO hat am vergangenen Freitag im Rahmen ihrer gegenwärtig laufenden Generalversammlung den 75. Jahrestag ihrer Gründung begangen. Dazu waren aus den 193 Mitgliedsländern zahlreiche Staats- und Regierungschefs nach Paris an den Sitz der UNESCO gekommen.

Der Beschluß zur Gründung der UNO-Spezialorganisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, die an die friedensstiftenden Bemühungen des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg anknüpfen sollte, war im November 1945 in London auf einer Bildungsministerkonferenz der Alliierten durch die Vertreter von 37 Ländern gefaßt worden. Nach der Ratifizierung dieses Beschlusses durch die ersten 20 Länder erfolgte die eigentliche Gründung der UNESCO auf ihrer ersten Generalkonferenz im November 1946 in Paris.

Wichtigstes Ziel war es den Statuten zufolge, »eine Kultur des Friedens zu schaffen, die auf der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit beruht«. In diesem Sinne sollten die Mitgliedsländer auf den Gebieten der Erziehung, der Wissenschaft und der Kultur zusammenarbeiten. Nach einigen Jahren kamen noch Kommunikation und Information hinzu.

Die besten Erfahrungen verallgemeinern

Heute gliedern sich die Aktivitäten der Weltorganisation in fünf Säulen: Erziehung, Naturwissenschaften, Sozial- und Humanwissenschaften, Kultur, Kommunikation und Information. Auf diesen Gebieten tauschen sich die Mitgliedsländer über ihre nationale Politik aus und versuchen, die besten Erfahrungen zu verallgemeinern. Für jedes Gebiet sammelt die UNESCO eine Vielzahl von Fakten und Zahlen, die einen Vergleich und Erfahrungsaustausch ermöglichen und es den Mitgliedsländern leichter machen, für sich die besten Entscheidungen zu treffen.

Zu Schwerpunktthemen werden im Rahmen der UNESCO internationale Programme und Initiativen lanciert. So haben beispielsweise auf der gegenwärtigen Generalversammlung 40 Staats- und Regierungschefs in einem »Appell von Paris« dazu aufgerufen, Lehren aus der Covid-19-Pandemie zu ziehen, die weltweit 1,6 Milliarden Kinder über viele Monate um ihr Recht auf Schulunterricht gebracht hat, und massiv in das Bildungssystem ihrer Länder zu investieren.

Sie erinnern daran, daß sich die UNESCO-Mitgliedsländer bereits 2015 verpflichtet hatten, 4-6 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für das Bildungswesen aufzuwenden, doch die meisten seien noch weit davon entfernt. Auch in den nationalen Programmen zur Überwindung der Corona-Krise sind dafür viel zu wenig Mittel vorgesehen, im Schnitt 1 Prozent in den Entwicklungsländern und 2,9 Prozent in den hochentwickelten Ländern. Gleichzeitig wurde eine Studie zur Zukunft der Erziehung bis 2050 vorgelegt. Darin wird festgestellt, daß die Bildung, um zu einer gerechteren Welt beizutragen, stärker ökologisch, interkulturell und interdisziplinär auszurichten sowie Solidarität und Kooperation in den Mittelpunkt zu stellen sei.

Vielfältige Aktivitäten

Über die politische Zusammenarbeit im Rahmen der UNESCO hinaus werden auch konkrete Projekte geplant und durch die Gründung entsprechender Strukturen und das Anwerben von Fachleuten aus aller Welt praktisch umgesetzt. Die dafür benötigten Gelder gehen weit über das UNESCO-Jahresbudget hinaus, für das die Mitgliedsländer Beiträge zahlen, und machen dem Umfang nach noch einmal fast genauso viel aus. Diese Zusatzmittel müssen durch freiwillige Zahlungen der am jeweiligen Projekt interessierten Länder und durch Sponsoren aufgebracht werden.

Diese Aktivitäten sind sehr vielfältig. So befindet sich in Hamburg ein UNESCO-Institut für Forschungen auf den Gebieten Erziehungsplanung, Elementar-, Sekundär- und universitäre Erziehung sowie für lebenslanges Lernen. Auf naturwissenschaftlichem Gebiet engagiert sich die UNESCO stark für nachhaltige Entwicklung und Biodiversität. Dem dienen beispielsweise Forschungsprogramme in tropischen Urwäldern oder Programme für den Bau preiswerter Wasserpumpen und Wasseraufbereitungsanlagen in Afrika. Die UNESCO ist auch sehr stark an der Klimaforschung, der zwischenstaatlichen ozeanografischen Forschung sowie am Aufbau von Erdbeben- und Tsunami-Frühwarnsystemen beteiligt.

Auf humanwissenschaftlichem Gebiet spielt das Thema Ethik der Wissenschaft und der innovativen Technologien eine große Rolle, wo man sich beispielsweise mit den möglichen Konsequenzen aus dem Einsatz von Nano- oder anderen Biotechnologien sowie von künstlicher Intelligenz und der forcierten Automatisierung in der Industrie beschäftigt.

Auf dem Gebiet der Kultur will die UNESCO das historisch von Europa und dem elitären Bildungsbürgertum ausgegangene Kulturverständnis überwinden, das sich auf Bauten, museale Kunstwerke und Literatur konzentriert, um es auf die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu erweitern, bis hin zum mündlichen und immateriellen Erbe der Menschheit.

In Entwicklungsländern hilft die UNESCO konkret bei archäologischen Grabungen und bei der Aufbereitung und Präsentation des historischen und künstlerischen Erbes in Museen.

Weltkulturerbeliste

Ein sehr wichtiges Instrument der UNESCO auf dem Gebiet der Kultur ist die 1972 beschlossene und seit 1978 geführte Weltkulturerbeliste, die zunächst für historisch wertvolle und besonders schützenswerte Kulturdenkmäler gedacht war und später auch auf Landschaften und Naturschutzgebiete ausgedehnt wurde. Das Label wurde bis Mitte des laufenden Jahres bereits 1.154 Mal vergeben, davon an 897 Weltkulturerbestätten, 218 Weltnaturerbestätten und 39 gemischte Stätten. Frankreich erhielt den Titel bisher 49 Mal. Seit 2003 gibt es auch eine UNESCO-Liste für immaterielles Kulturerbe mit bisher 584 Einträgen für lebendige und bewahrenswerte kulturelle Traditionen und Ausdrucksformen. Darunter befinden sich beispielsweise die französische Kochkunst und der deutsche Orgelbau.

Der Kulturerbetitel ist sehr begehrt, denn in den hochentwickelten Ländern mit ihren zahlreichen Stätten läßt er erfahrungsgemäß den Touristenstrom um durchschnittlich 30 Prozent anschwellen und in Entwicklungsländern ist er eine Hilfe zur Armutsbekämpfung.

Die UNESCO führt und veröffentlicht aber auch eine Rote Liste gefährdeter Kulturdenkmäler, um so zu deren Schutz aufzurufen. Es kommt aber nur selten vor, daß Kulturstätten mit dem UNESCO-Label auf diese Rote Liste abrutschen, und in der 50-jährigen Geschichte des Titels mußte er erst drei Mal aberkannt werden. Dieses Schicksal ereilte beispielsweise 2009 das Dresdener Elbtal, weil den Stadtoberen der Bau einer Brücke für den Autoverkehr, die empfindlich den Anblick das historischen Zentrums der Stadt stört, wichtiger war als das Bewahren des Kulturdenkmal-Titels der UNESCO.

Kampf um Einfluß

Die UNESCO war seit ihrer Gründung vor 75 Jahren eine der Arenen für die Systemauseinandersetzungen des Kalten Krieges. Seit der Welle der – oft durch Befreiungskämpfe erzwungenen – Entlassung der ehemaliger Kolonien in die Unabhängigkeit in den 1960er Jahren gab es bei jedem Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturprojekt der Weltorganisation ein erbittertes Tauziehen des sozialistischen Lagers unter Führung der Sowjetunion und des Westens unter Führung der USA um den Einfluß in den Entwicklungsländern. Die nutzten diese Konstellation nicht selten, um die beiden konkurrierenden Seiten gegeneinander auszuspielen und daraus für sich materielle Vorteile zu ziehen.

Ein Höhepunkt dieser Konfrontation war in den 1970er Jahren die Auseinandersetzung um eine internationale Informationsordnung. Der Westen wollte darin neben der Pressefreiheit und Meinungsvielfalt vor allem den Schutz des Privateigentums an den Medien verankert sehen. Dagegen legten die Entwicklungsländer, unterstützt durch die sozialistischen Länder, das Schwergewicht darauf, daß die Medien vor allem den nationalen Interessen zu dienen hätten.

Wenn die USA gehofft hatten, durch den 1989 einsetzenden Zusammenbruch des sozialistischen Lagers künftig in der UNESCO freie Hand zu haben, so sahen sie sich getäuscht. An die Stelle der Ost-West-Konfrontation trat jene zwischen den Industrieländern und traditionellen Kulturnationen im Norden und den Entwicklungsländern im Süden. Besonders zugespitzt hat sich das um den Nahostkonflikt und die Haltung zu Israel und Palästina.

Als 2011 auf der UNESCO-Generalkonferenz 107 Länder für die Vollmitgliedschaft Palästinas statt des bisherigen Beobachterstatus stimmten und nur 14 Länder dagegen, reagierten die USA und Israel zunächst mit der Streichung aller freiwilligen Zahlungen für Programme der UNESCO. Als das nichts half, zahlten sie auch nicht mehr ihre Mitgliedsbeiträge und schließlich traten beide Länder 2018 aus der UNESCO aus. Diesen besonders aggressiv durch Donald Trump vorangetriebenen Kurs bemühen sich die Regierungen der USA und Israels gegenwärtig zu korrigieren und es gibt Anzeichen für ihre Rückkehr in die UNESCO.

Eine neue Front bahnt sich gegenüber China an, das »auf Samtpfoten Schritt für Schritt Boden gewinnt«, wie ein hoher UNESCO-Beamter hinter vorgehaltener Hand einschätzt. Es gehöre zu den Zielen Chinas, in der UNESCO zu den Ländern aufzusteigen, die den Kurs bestimmen. Als die Schweiz kürzlich der UNESCO erklärte, daß sie nicht länger gewillt sei, das UNESCO-Büro für Schulprogramme zu beherbergen und zu finanzieren, war sofort China mit dem Angebot zur Stelle, für eine Verlegung nach Shanghai Infrastrukturen, Hilfspersonal und Geld bereitzustellen. Dieses Büro registriert Schulprogramme aus allen Mitgliedsländern und bereitet sie für den internationalen Vergleich und Erfahrungsaustausch auf.

Da sich hier Entwicklungsländer für ihr Bildungssystem kostenlos bedienen können, geht unter den westlichen Ländern die Sorge um, daß China die Chance nutzen könnte, mit der Arbeit dieses Büros ideologischen Einfluß in den Entwicklungsländern zu gewinnen. Um das abzuwenden, hat sich Spanien bereit erklärt, das Büro in Madrid aufzunehmen. Voraussetzung sei allerdings, daß sich die anderen EU-Mitgliedsländer finanziell beteiligen. Da es an der Bereitschaft dazu mangelt, bekommt China vielleicht doch noch seine Chance.

 

 

 

 

 

 

Foto 75 Jahre UNESCO

 

Audrey Azoulay (vorne M.), Generaldirektorin der UNESCO, und führende Persönlichkeiten aus aller Welt bei den Feierlichkeiten zum 75-jährigen Bestehen der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) am 12. November in Paris      (Foto: Julien De Rosa/Pool AFP/AP/dpa)