Leitartikel17. August 2021

Ein riesiger Scherbenhaufen

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Es ging wesentlich schneller als die »Analysten« es angekündigt hatten. Noch vor wenigen Tagen wurde berichtet, in Kreisen der Geheimdienste der USA rechne man mit einem Fall der afghanischen Hauptstadt innerhalb von 30 bis 60 Tagen. In Wirklichkeit hat es seitdem kaum eine Woche gedauert, bis die Taliban alle wichtigen Provinzhauptstädte weitgehend kampflos unter ihre Kontrolle gebracht haben und schließlich am Sonntag – ebenso kampflos – in die Amtsräume des bisherigen Präsidenten von USA-Gnaden vordrangen. Der hatte rechtzeitig mit einer Handvoll Vasallen das Land verlassen, wie verlautet in Richtung Tadshikistan.

Die gesamte Außen- und Militärpolitik der USA, der NATO und auch der EU ist damit auf einen Schlag wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, der »demokratische« Westen steht vor einem riesigen Scherbenhaufen. Vor allem aber müssen sich die rund 38 Millionen Einwohner Afghanistans mit dem Gedanken vertraut machen, daß all die großartige Militärmaschinerie des Westens es auch in fast genau 20 Jahren Krieg nicht vermochte, die Verhältnisse im Land grundlegend zu ändern.

Was hatte man den Leuten nicht alles versprochen: Freiheit, Demokratie, ein funktionierendes Gesundheitswesen, Bildung, auch für Frauen und Mädchen, und viele Verheißungen des freien Westens. Den Steuerzahlern in den Ländern, deren Streitkräfte an dem militärischen Abenteuer in Afghanistan teilnahmen, auch hier in Luxemburg, wurde erzählt, die Soldaten würden Brunnen bauen und Mädchen den Schulbesuch ermöglichen. Dafür lohne es sich doch, für teures Geld Truppen an den Hindukusch zu schicken.

In Wirklichkeit ging es natürlich um handfeste geostrategische Ziele. Ein früherer deutscher Bundespräsident wurde aus dem Amt komplimentiert, nachdem er vor Journalisten ausgeplaudert hatte, es gehe um die Sicherung von Transportwegen für »die Wirtschaft«. Vor allem dürfte jedoch die Einrichtung möglichst dauerhafter Militärbasen in geographischer Nähe zu Rußland und China ein wichtiger Aspekt gewesen sein, als USA-Präsident George W. Bush die Invasion in Afghanistan anordnete. Die Begründung war so fadenscheinig wie das Argument der »Massenvernichtungswaffen« zwei Jahre später beim Angriff auf den Irak. Man wolle den »Drahtzieher« der Anschläge des »9/11« ergreifen, log der Mann im Weißen Haus ohne rot zu werden, wissend, daß die Flugzeug-Attentäter mehrheitlich aus Saudi-Arabien kamen.

Seitdem haben sich in 20 Jahren Krieg vor allem die Rüstungskonzerne der USA mehrere goldene Nasen verdient, ebenso die zahlreichen »Dienstleister«, also private Söldnertruppen. Über 2 Billionen Dollar habe der Krieg gekostet, heißt es, dazu die Leben von Zehntausenden afghanischen Zivilisten, Soldaten, Milizionären, und das von mehreren tausend Soldaten der Invasoren.

Es ist nicht anzunehmen, daß die Herrschenden in den USA, den NATO- und EU-Staaten und den anderen beteiligten Ländern die Lektion lernen, daß es nicht möglich ist, einem Land eine bestimmte Vorstellung von »Demokratie« aufzuzwingen, auch nicht mit einer derartigen militärischen Gewalt. Der aktuelle USA-Präsident will im Dezember einen Gipfel über »Demokratie« veranstalten. Was er da wohl verkünden will?

Bürgerliche Militärstrategen betonen zuweilen, man solle keinen Krieg beginnen, ohne zu wissen, wie man ihn beenden kann. Aus der Geschichte sollten wir alle jedoch endlich die wichtigste Lektion lernen: Wir können nur in Frieden und Sicherheit leben, wenn überhaupt kein Krieg begonnen wird!