Leitartikel23. April 2021

Zum Leben zu wenig

von

In seiner letzten Regierungserklärung vor bald zwölf Jahren hatte Premier Jean-Claude Juncker angekündigt: »Mir wäerten op verschiddene Plazen am Land d'Servicer vun enger sougenannter "sozialer Epicerie" fir méi aarm a verschëllte Leid ubidde fir datt jiddwereen hei am Land – dat ass ee Mënscherecht – genuch an uerdentlech ze iesse kritt.«

Zur Begründung für die sozialpolitische Neuerung im Namen der Menschenrechte fügte Juncker an: »Och hei gëllt de Prinzip: Geldleeschtunge ginn net duer. Och Leeschtungen an der Saach si wichteg.«

Betrieben werden die »Epiceries sociales«, von denen es mittlerweile ein ganzes Dutzend gibt, von der im CSV-Staat bewährten katholischen Caritas und vom Roten Kreuz. Und der Bedarf ist auch unter der seit Ende 2013 regierenden Dreierkoalition beständig gestiegen: Obwohl sie zu Beginn der Pandemie vorübergehend schließen mußten, wurden 2020 bei 85.000 »Passages en caisse« (plus elf Prozent gegenüber 2019) zum Teil deutlich verbilligte Lebensmittel und Hygieneartikel im Gesamtwert von zwei Millionen Euro (plus 26 Prozent) verkauft, heißt es im neuen Sozialpanorama der Salariatskammer.

Dem ist auch zu entnehmen, daß sich die von den Sozialämtern ausbezahlten Hilfen zum Kauf von Lebensmitteln 2020 um zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr auf über eine Million Euro erhöht, und seit 2015 sogar verdoppelt haben. Insgesamt beliefen sich die Hilfen der Sozialämter im vergangenen Jahr demnach auf über vier Millionen Euro.

Die »Nachfrage« stimmt also. Doch wäre es nicht besser gewesen, die Regierung aus CSV und LSAP hätte nicht drei Jahre bevor sie die Notwendigkeit von Sozialläden erkannte, Kindergeld und Kinderboni desindexiert, also ihre Kopplung an die allgemeine Preisteuerung aufgehoben?

In der Broschüre, mit dem der OGBL vor der Coronakrise für ein Sozialpaket geworben hat, heißt es dazu: »Dieser Wertverlust hat schon (von 2006 bis 2014) schwere Einbußen für die Familien mit sich gebracht, und zwar etwa 20 Prozent was die Familienleistungen und 16 Prozent, was die Kinderboni betrifft.«

Das neue Sozialpanorama zeigt noch einen Umstand auf, der dazu beigetragen hat, daß immer mehr Menschen Sozialläden aufsuchen müssen: Daß nämlich das Phänomen der »working poor« in keinem anderen Land der Eurozone so verbreitet ist wie hier, wo mittlerweile zwölf Prozent der Schaffenden trotz täglicher Arbeit Gefahr laufen, in die Armut abzurutschen.

Bei der Salariatskammer weiß man auch, woran das liegt. Nämlich daran, daß der Bruttobetrag des Mindestlohns nur knapp über der Schwelle zum Armutsrisiko liegt, der Nettomindestlohn sogar unter der Armutsschwelle. Gemäß EU-Definition ist armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des Einkommensmedians zur Verfügung hat. Während der Mindestlohn hierzulande nur rund 40 Prozent des Medianlohns ausmacht, sind es in Belgien 60 Prozent und in Frankreich sogar 80 Prozent des Mindestlohns.

Und schließlich hat die Salariatskammer schon vor Jahren berechnet, daß der hiesige Mindestlohn um mindestens 21 Prozent erhöht werden muß, damit er vor einem Abrutschen unter die Armutsschwelle schützen kann – doch die Dreierkoalition hat bisher nur ein bißchen gekleckert.

Umso wichtiger, daß die Interessenvertreter der Schaffenden an ihrer offensichtlich immer berechtigter werdenden Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns festhalten.