Luxemburg02. September 2021

Maßlos

Intensivierung der Arbeit durch Home-Office

von Anne Rieger

Kein Stau, keine Störung im Büro, eigene Zeiteinteilung: Beschäftigte in Büroheimarbeit – elegant Home-Office genannt – müssen nicht stundenlang im Stau oder überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Sie können sich, ungestört von Telefonaten, Gesprächen, Besprechungen, Kundenkontakten, Plaudereien auf das für sie Wesentliche konzentrieren. Der Ablenkungsfaktor ist geringer – wenn, ja wenn sie eine entsprechend große Wohnung mit mehreren Räumen haben und wenn keine Kinder in der Wohnung sind. Gehen wir von diesem Fall aus.

Bleibt man fürs konzentrierte Arbeiten daheim, ist man schneller. Der Vorteil ist, daß entweder mehr freie Zeit zur Verfügung steht oder man besser dasteht als die Kolleginnen und Kollegen, wenn schneller und vielleicht auch qualitativ bessere Ergebnisse erbracht werden. Das wirkt sich zum Nachteil aller aus. Denn es werden – ungewollt – neue Standards gesetzt. Der Druck auf die schnellere Lieferung von Ergebnissen wächst, der Arbeitsumfang steigt oftmals. Die Arbeitsintensität verdichtet sich unter der Hand für alle.

Die eigenverantwortliche Einteilung von Arbeitszeit und Freizeit bringt eine Vermischung von Arbeit und Privatleben mit sich. Die Grenzen verschwinden, die Arbeitszeit wird schleichend ausgeweitet. Denn es ist durchaus üblich, die Beschäftigten so mit Arbeit zuzuschütten, daß sie – auch ohne Kontrolle – ununterbrochen arbeiten (müssen).

Die nicht ausgesprochene Arbeitsaufforderung, nochmal auf den vielleicht offenen Laptop auf dem (Küchen-)Tisch zu schauen, diese oder jene Mail doch noch anzusehen, gar zu beantworten, einen Arbeits- bzw. Entwicklungsschritt noch zu dokumentieren trägt man nun – bewußt oder unbewußt – permanent mit sich herum. Da kann viel der eingesparten Wegezeit wieder verloren gehen.

Fast 40 Prozent der im Home-Office Tätigen überschreiten in einer durchschnittlichen Arbeitswoche die 40-Stunden-Marke. Nicht mehr die Zeit ist das Maß für die Arbeit, was man an diesem so festgelegten normalen Arbeitstag erledigen kann, sondern das Ergebnis – egal, wie viel Zeit man dafür aufwendet. Das Maß, was in einem normalen Arbeitstag zu erledigen ist, geht verloren.

Das entspricht dem seit längerem präferierten Führungsstil der ergebnisorientierten Output-Steuerung. Nur Ergebnisse werden abgefragt, nicht, wie viel Zeit dafür notwendig war. Es ist der Führungsstil eines bewußten Zugriffs auf die Selbstkontrolle und Eigenverantwortung der Beschäftigten. Sie wirkt unterschwellig und führt zur strikten Selbstdisziplinierung und damit zu weiterer Intensivierung der Arbeit.

Im Home-Office ist die notwendige Zeit noch weniger sichtbar als im Büro. Es fehlt hier auch der Vergleich zur Länge der Arbeitszeit von Kolleginnen und Kollegen – und auch der Vergleich zur Qualität der abgelieferten Arbeit. So kann es dann zur Unterlassung der Meldung von Krankheit, sowohl physischer als auch psychischer Art, kommen.

Wer glaubt, dem entfliehen zu können, verkennt den Zwang des kapitalistischen Ausbeutungssystems, den Zwang zur Gewinnmaximierung durch permanente Steigerung von Produktivität. Bei Strafe seines Untergangs ist der Kapitalist gezwungen, jede Pore des Arbeitstages auszufüllen.

Home-Office folgt nicht Humanisierungsambitionen. Zwar scheint es eine Arbeitsinsel jenseits der Zwänge des Betriebsalltags zu sein. Für die Organisations- und Personalpolitik der Unternehmen aber ist auch die Arbeit zu Hause Teil der permanenten Restrukturierungsanforderungen. Das Zählen des Outputs, die Suche nach versteckten Arbeitspausen ist durch die permanente technische Überwachung ein Kinderspiel.