Ausland23. Juli 2021

Der polizeilichen Gesichtskontrolle den Kampf angesagt

Menschenrechtsorganisationen in Frankreich haben den Staat verklagt

von Ralf Klingsieck, Paris

Sechs repräsentative Menschenrechtsorganisationen haben am Mittwoch vor dem Staatsrat, dem obersten Verwaltungsgericht, den Staat verklagt. Sie fordern, die Praxis der willkürlichen Polizeikontrollen von Jugendlichen nach Hautfarbe und ethnischer Herkunft zu beenden.

Gemäß dem Verfahren zur Suche nach einer außergerichtlichen Einigung, wie sie im 2016 verabschiedeten Gesetz zur Modernisierung der Justiz im 21. Jahrhundert vorgesehen ist, hatten die Organisationen – darunter Amnesty International und Human Rights Watch – im Frühjahr Premierminister Jean Castex, Innenminister Gérard Darmanin und Justizminister Eric Dupond-Moretti aufgefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diese »stigmatisierende, erniedrigende und entwürdigende Praxis der Ordnungskräfte« endlich abzuschaffen. Sollten sie innerhalb von vier Monaten keine zufriedenstellende Antwort bekommen und sich am Problem nichts ändert, wollten sie mit einer Gruppenklage gegen den Staat vor Gericht gehen. Das ist jetzt geschehen, und die Kläger sind entschlossen, durch alle Instanzen und notfalls bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen.

Im vergangenen Dezember hatte Präsident Emmanuel Macron nach einer Serie gewalttätiger und rassistischer Übergriffe der Polizei per Twitter erklärt: »Heute ist es so: wenn man eine Hautfarbe hat, die nicht weiß ist, wird man viel häufiger kontrolliert. Man wird von vornherein als Quelle von Problemen angesehen. Das ist unerträglich.« Diese Worte hatten bei den Menschenrechtsorganisationen die Hoffnung geweckt, daß der Präsident eingreifen würde und das leidige Problem ein für alle Male aus der Welt geschafft wird. Doch sie sollten sich getäuscht haben.

Die fast durchweg rechts bis rechtsextrem ausgerichteten Polizeigewerkschaften konnten sich beim Innenminister, der für sie immer ein offenes Ohr hat, mit ihrer Sichtweise durchsetzen, daß es sich bei den Protesten gegen Gewalt und Rassismus bei der Polizei nur um ein »von linken Kräften geschürtes öffentliches Kesseltreiben« gegen die Ordnungskräfte handele. Entsprechend hat sich an den Vorschriften und an der Praxis der »Gesichtskontrollen« nichts geändert.

Eine solche Situation hat es in den vergangenen Jahren schon mehrfach gegeben, wenn diskriminierte Jugendliche mit Unterstützung von Anwälten der Menschenrechtsorganisationen vor Gericht gegangen sind. Wiederholt hat es dabei, mal gleich in erster Instanz oder aber später vor dem Appellationsgericht, Urteile der Justiz gegeben, die diese Art der Personenkontrollen als unvereinbar mit den Grundrechten der Bürger gewertet und von der Regierung eine entsprechende Änderung der Vorschriften und Praktiken gefordert haben.

In diesen Verfahren wurde von den Klägern nachgewiesen und von den Richtern anerkannt, daß die Polizisten mit ihren willkürlichen Kontrollen die Jugendlichen ausländischer Herkunft, die sie pauschal als potenzielle Kriminelle ansehen, einschüchtern und verunsichern wollen.

Das deckt sich mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen von Soziologen, wonach Jugendliche, die ihrem Aussehen und ihrer Hautfarbe nach arabischer oder afrikanischer Herkunft sind, 20 Mal größere Chancen haben, von der Polizei willkürlich kontrolliert zu werden als ihre weißen Altersgenossen.

Eine vor Jahren eingeführte »Kontrollbescheinigung«, die Polizisten den kontrollierten Jugendlichen auszustellen hatten, die sie nötigenfalls vorweisen konnten, um weitere Personenkontrollen am selben Tag zu vermeiden, wurde in der Polizeipraxis unterlaufen und ist längst in der Vergessenheit verschwunden. Es ist weiterhin Alltag, daß farbige Jugendliche mehrfach – bis zu einem Dutzend Mal – am selben Tag kontrolliert werden.

Doch statt die Jugendlichen dadurch einzuschüchtern und gefügig zu machen, erreichen die Polizisten das Gegenteil. Der Haß gegen alle Uniformträger wächst und trifft selbst Feuerwehrleute, die oft Schwierigkeiten haben, in »Problemvierteln« der Vorstädte einen Brand zu löschen. Für die Polizei sind solche Viertel nur zu oft Gegenden, um die sie lieber einen Bogen machen, um offenen Konfrontationen zu entgehen.

»Es geht uns nicht darum, alle Polizisten als Rassisten abzustempeln, sondern ein System zu beenden, das zwangsläufig zu Diskrimination führt«, sagt Salah Amokrane von der Vereinigung Takticollectif, der die Aktion der sechs Menschenrechtsorganisationen koordiniert. »Neu an unserer Initiative ist, daß wir uns dabei über Klagen zu Einzelfällen hinaus direkt an den Staat als Verantwortlichen für dieses System wenden, das zu ‚Gesichtskontrollen‘ führt. Frankreich ist das einzige Land Europas, wo die Polizei Personenkontrollen durchführen kann, ohne einen Grund dafür zu haben und sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das darf so nicht bleiben. Das ist der ‚Heimat der Menschenrechte‘ unwürdig.«