Ausland12. Mai 2021

Globale Impfstoffrivalitäten

Die EU lehnt die Patentaussetzung für Covid-19-Impfstoffe weiterhin ab. Washington verfolgt mit der Forderung nach Lizenzfreigabe geostrategische Ziele

von German Foreign Policy

Die EU blockiert die zeitweise Aussetzung der Patente für Covid-19-Impfstoffe auch noch nach dem diesbezüglichen Kurswechsel der USA. Man sei nicht der Ansicht, die Patentfreigabe zum Zweck der Ausweitung der Vakzinproduktion sei der angemessene Schritt, teilten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ratspräsident Charles Michel am Samstag nach dem jüngsten EU-Gipfel mit.

Berlin sorgt sich vor allem um die mRNA-Patente von BioNTech: Das Unternehmen soll mit ihnen einen wichtigen Beitrag zum Ausbau des Biotechnologiestandorts Deutschland leisten; die Patente dürften deshalb nicht China in die Hände fallen, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel zitiert.

Dabei trägt auch die Biden-Administration mit ihrem Vorstoß zur Patentfreigabe dem Machtkampf gegen China Rechnung: Seit Indien wegen der Eskalation der Pandemie im eigenen Land keine Impfstoffe mehr exportiert, werden ärmere und Schwellenländer fast nur noch von China und Rußland versorgt – auch mit deren Lizenzen zu einer eigenen Vakzinproduktion. Die Patentfreigabe könnte die chinesisch-russische Impfdominanz brechen.

Patentfreigabe?
»Keine Lösung«

Die deutsche Bundesregierung und – vor allem auf deutsches Insistieren – die EU blockieren den Vorstoß der USA, dem international weiter wachsenden Druck nachzugeben und die Covid-19-Impfstoffpatente zumindest eine Zeitlang auszusetzen. Während der UNO-Generalsekretär sowie die Spitzen der Weltgesundheits- und der Welthandelsorganisation (WHO, WTO) die entsprechende Ankündigung der Biden-Administration ausdrücklich begrüßen, sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag nach dem jüngsten EU-Gipfel gegen die Patentfreigabe aus: Sie denke nicht, »daß die Freigabe von Patenten die Lösung ist, um mehr Menschen Impfstoff zur Verfügung zu stellen«, erklärte sie.

Hatten sich vor dem EU-Gipfel mehrere EU-Mitgliedstaaten noch über den Vorstoß der USA erfreut gezeigt – darunter Österreich, Spanien und Polen –, so war nach dem EU-Gipfel, auf dem Merkel offen intervenierte, davon keine Rede mehr. EU-Ratspräsident Charles Michel äußerte zur Patentaussetzung: »Wir denken nicht, daß das kurzfristig eine Wunderlösung ist. Erst wenn ein konkreter Vorschlag vorliege, wolle man weiterdiskutieren. Deutsche Medien sprachen unter Berufung auf EU-Kreise abschätzig von einem »PR-Trick« der USA.

Lieferblockaden

In der Tat erfolgte die Ankündigung der Biden-Administration vom vergangenen Mittwoch, einer Patentfreigabe nicht mehr im Weg zu stehen, erst, als Washington international immer stärker in Zugzwang geraten war. Zum einen nehmen Proteste gegen das Horten von Impfstoffen durch die Vereinigten Staaten zu, seit Mitte April bekannt wurde, spätestens Ende Juli könnten sich rund 300 Millionen Impfdosen ungenutzt in USA-Lagern stapeln, während in den meisten ärmeren Ländern extremer Mangel herrscht.

Beschwerden gab es zudem, weil die USA nicht nur die Ausfuhr von Impfstoffen, sondern auch den Export von Vorprodukten stark beschränkt haben; dies hatte USA-Präsident Joe Biden bereits kurz nach seinem Amtsantritt unter Nutzung von Bestimmungen des U.S. Defense Production Act (DPA) festgelegt. Weil dies die Impfstoffproduktion etwa des Serum Institute of India, des größten Vakzinherstellers der Welt, empfindlich beeinträchtigt, hat dessen Chef Adar Poonawalla Mitte April öffentlich scharfe Kritik an Biden geübt.

Die USA-Blockaden haben im dramatisch pandemiegeplagten Indien den Unmut über die Vereinigten Staaten und über den Pro-USA-Kurs der Regierung von Premierminister Narendra Modi anschwellen lassen – eine Entwicklung, die Washington nicht gleichgültig sein kann, weil es im Machtkampf gegen China auf enge Kooperation mit New Delhi setzt.

Ohne Gegengewicht

Hinzu kommt, daß die dramatische Eskalation der Pandemie in Indien die Positionen des Westens in der Impfrivalität mit China und Rußland schwächt. Entwicklungs- und Schwellenländer haben bislang fast ausschließlich Impfstoffe aus China, Rußland und Indien erhalten. China hat mittlerweile 240 Millionen Impfdosen in zahlreiche Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sowie in einige ärmere Länder Ost- und Südosteuropas geliefert.

China wie auch Rußland, das trotz geringerer Produktionskapazitäten gleichfalls nach Kräften Impfstoff exportiert, fördern zudem die Lizenzproduktion ihrer Vakzine durch einheimische Firmen in diversen ärmeren bzw. Schwellenländern, darunter etwa Brasilien, Marokko, Indonesien und Serbien.

Lieferungen kamen bis vor kurzem auch aus Indien, wo das Serum Institute of India das Vakzin von AstraZeneca (Britannien) in Lizenz herstellt; nach Angaben des indischen Außenministeriums lieferte es mittlerweile mehr als 66 Millionen Impfdosen in Entwicklungs- und Schwellenländer. Weil Indien nun aber sämtliche verfügbaren Kapazitäten für den eigenen Kampf gegen die Pandemie benötigt, fällt es als prowestliches Gegengewicht gegen Rußland und China auf absehbare Zeit bei der Belieferung der ärmeren Welt mit Vakzinen aus.

Die Apotheke der Reichen

Damit sind die ärmeren Länder beinahe vollständig auf Unterstützung aus China und Rußland angewiesen – denn auch die EU beliefert sie entgegen anderslautenden Behauptungen kaum. Zwar hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangenen Donnerstag in einer Rede beim European University Institute in Florenz erklärt, die EU sei »die einzige demokratische Region weltweit, die in großem Maßstab Impfstoff exportiert«; zudem hatte sie die Union stolz »Apotheke der Welt« genannt. Als »Apotheke der Welt« wird gelegentlich Indien bezeichnet, da dessen Pharmakonzerne in großen Mengen kostengünstige Medikamente herstellen, die auch für ärmere Länder erschwinglich sind.

Freilich haben Konzerne aus der EU vor allem kostspielige BioNTech/Pfizer-Impfstoffe exportiert – und dies, wie die Sprecherin der Kommission für Handelsfragen, Miriam García Ferrer, bestätigt, überwiegend in wohlhabende Länder. Die EU hat laut eigenen Angaben seit Januar 178 Millionen Dosen für den Export prinzipiell freigegeben; Empfänger sind Japan (72 Millionen), Britannien (18,6 Millionen), Kanada (18,4 Millionen), Saudi-Arabien (sieben Millionen), die Schweiz und die Türkei (jeweils fünf Millionen), Singapur und Südkorea (jeweils drei Millionen). EU-Lieferungen an ärmere Länder fallen kaum ins Gewicht.

Auf dem Durchmarsch

Während der Westen in der Impfrivalität in erheblichem Maß Einfluß an China und Rußland verliert, liegen in zahlreichen Ländern Kapazitäten zur Impfstoffproduktion brach. So bemüht sich das kanadische Unternehmen Biolyse Pharma seit Monaten vergeblich, die Lizenz für die Herstellung eines Vakzins zu erhalten. Seine Kapazitäten werden mit rund 50 Millionen Dosen im Jahr angegeben. Incepta Pharmaceuticals aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka könnte bis zu 350 Millionen Dosen jährlich produzieren, bekommt aber ebenfalls keine Lizenz – bisher.

Doch das könnte sich nun ändern. Seit Bangladeschs Hauptlieferant Indien ausfällt, bemüht sich Dhaka intensiv um Ersatz – in Peking und in Moskau. Insbesondere ist die Lizenzproduktion von Sputnik V im Gespräch; an Verhandlungen darüber nahmen vor einigen Tagen auch Vertreter von Incepta Pharmaceuticals teil.

Will der Westen im globalen Impfstoffrennen nicht noch mehr hinter Rußland und China zurückfallen, muß eine Wende her. Der aktuelle Vorstoß der Biden-Administration zielt exakt darauf ab.

Eine »Gamechangertechnologie«

Damit allerdings verstößt die Biden-Administration – aus geostrategischen Gründen – nicht nur gegen das Interesse der mächtigen Pharmaindustrie der USA, die um die Profite fürchtet, sondern auch gegen Interessen Berlins. Die deutsche Bundesregierung fördert BioNTech und CureVac mit ihren mRNA-Impfstoffen nicht zuletzt deshalb, weil die mRNA-Technologie als bedeutender Faktor bei dem erstrebten Ausbau des Biotechnologiestandorts Deutschland gilt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte daher laut Berichten auf dem EU-Gipfel, die mRNA-Patente dürften nicht China in die Hände fallen. Am Montagabend sprach sie mit einschlägigen Experten über »Gamechangertechnologien für den Biotechnologiestandort Deutschland«; zentral ist dabei die mRNA-Technologie. Deren Förderung gewinnt in der Berliner Pandemiepolitik eine zunehmende Bedeutung.