Leitartikel07. Mai 2021

An vorderster Front

von Uli Brockmeyer

Wer einigermaßen aufmerksam die Geschehnisse in aller Welt, aber auch in der engeren Nachbarschaft und im eigenen Land verfolgt, könnte meinen, daß hochrangige Mitglieder unserer Regierung eine Menge sehr dringender Probleme zu besprechen und vor allem zu lösen hätten. Das Auf und Ab, ebenso wie das Für und Wider im Zusammenhang mit der akuten Gesundheitskrise bieten mehr als ausreichend Stoff für einen ausgefüllten Arbeitstag.

Aber dann wird man plötzlich überrascht von der Mitteilung, laut der unser Außenminister sich auf eine Reise begeben hat. Allerdings nicht etwa in ein Land, mit dem eines der drängenden Probleme gelöst werden könnte, sondern in eines, das Probleme schürt und neue schafft. Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Belgien, Vizepremierministerin Sophie Wilmès, und dem niederländischen Außenminister Stef Brok stattet Herr Asselborn ausgerechnet der Ukraine einen »Arbeitsbesuch« ab.

Laut vorliegenden Informationen wollten sich die Benelux-Außenminister gestern im Donbass-Gebiet umschauen, also an vorderster Front des Krieges, der von ukrainischen Regierungstruppen und diversen Milizen gegen die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk, und indirekt gegen Rußland geführt wird. An der »Kontaktlinie« sollten Gespräche mit »lokalen Verantwortlichen« geführt werden, eine interessante Umschreibung für Kommandeure kämpfender Truppen. Und heute soll es dann in Kiew zur Sache gehen. Wilmès, Blok und Asselborn wollen mit »Vertretern der Zivilgesellschaft« und mit dem ukrainischen Außenminister Kuleba sprechen.

Herr Kuleba ist, nebenbei gesagt, der Dienstherr des ukrainischen Botschafters in Berlin, der erst vor wenigen Tagen damit gedroht hat, die Ukraine könne eine nukleare Bewaffnung in Erwägung ziehen, falls sich die EU und die NATO nicht zu einer stärkeren Unterstützung des Kampfes gegen die »russische Bedrohung« entschließen sollten. Wenn ein Botschafter in einer der für die Ukraine wichtigsten Hauptstädte so etwas öffentlich äußert, und damit von sämtlichen Medien zitiert wird, dann gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er handelt eigenmächtig und muß dann schleunigst abgezogen werden, oder er redet in voller Übereinstimmung mit seinen Chefs in der Heimat.

Laut diplomatischem Protokoll ist ein Botschafter der Vertreter des jeweiligen Staatsoberhaupts, das heißt, seine Bemerkung muß durchaus ernst genommen werden. Also ist der Besuch aus Benelux auch ich diesem Zusammenhang zu sehen, und im größeren Kontext natürlich mit der Konfrontation mit Rußland, die von der Friedensnobelpreisträgerin EU beständig neu geschürt wird. Man denke nur an die jüngsten Sanktionen gegen Rußland, die Rauswürfe russischer Diplomaten aus mehreren Hauptstädten von EU-Ländern, die ständig wiederholten Vorwürfe, die aus EU-Sicht keines Beweises bedürfen, weil es ja gegen Rußland geht, von dem bekanntlich eine »ständige Bedrohung« ausgeht…

Die Redaktion dieser Zeitung stellt sich nicht bedingungslos auf die Seite des kapitalistischen Rußland. Wir geben jedoch erneut zu bedenken, daß das Herbeireden von »Bedrohungen« und Militärmanöver unter Beteiligung von NATO-Staaten und regionalen Verbündeten in der Nähe der russischen Grenzen das Gegenteil von Entspannung bedeuten. Und ganz nebenbei kann man damit auch von den eigentlichen Problemen im eigenen Land ablenken…