Das Wettrüsten ufert immer weiter aus
Ein Truppenbesuch zum Abschied: Bevor die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Freitag nach drei Tagen Gesprächen in den drei baltischen Staaten den Heimflug nach Deutschland antrat, schaute sie noch in Rukla vorbei. In dem litauischen Ort führt die Bundeswehr seit fünf Jahren eine der bisher vier NATO-Battlegroups; zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind dort deutsche Soldaten auf einst sowjetischem Territorium stationiert, und unter dem Kommando deutscher Offizieren dienen dort auch Soldaten aus Luxemburg.
Die Battlegroup befindet sich im Umbruch: Sie ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bereits aufgestockt worden, auf gut 1.500 Soldaten, zwei Drittel davon deutsche – und sie soll schon bald auf Brigadestärke wachsen, auf ungefähr 4.000 Soldaten. Darüber jedenfalls hat Baerbock im Baltikum verhandelt. In aller Form beschließen muß den Schritt der NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid. Baerbock kündigte nun einen »substantiellen Beitrag« der Bundeswehr an. Und ob es bei einer Battlegroup in Brigadestärke bleiben wird, ist längst noch nicht klar: Litauen dringt bereits auf mehr.
Wenn’s nur das wäre. Die Stationierung von vier neuen Battlegroups in vier Staaten von der Slowakei bis Bulgarien ist mittlerweile im Gang – und jetzt zeichnet sich auch noch ziemlich deutlich ein baldiger NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens ab. Beide Länder haben sich in den vergangenen Jahren ohnehin schon eng an den westlichen Militärpakt gebunden; beide sind längst nur noch auf dem Papier neutral. Dennoch wäre ihr formeller NATO-Beitritt ein weiterer Schritt zur festen Einkreisung Rußlands – dann nicht mehr nur von der Ostsee, sondern sogar vom hohen Norden bis zum Schwarzen Meer.
In Helsinki sowie in Stockholm werden in aller Eile Analysen produziert, Entscheidungsvorlagen verfaßt; ein offizieller Beschluß über den Beitritt wird noch vor dem Madrider NATO-Gipfel erwartet. Die Pläne, das Kriegsbündnis nach Norden zu erweitern, sind nicht neu. Neu ist aber: Der Ukraine-Krieg und die massiv gesteigerte antirussische Agitation schaffen zum ersten Mal Mehrheiten in der finnischen sowie in der schwedischen Bevölkerung für eine förmliche Preisgabe der Neutralität. Die NATO wird sich diese Chance kaum entgehen lassen.
Auch bei der Norderweiterung gilt: Sie ist nur ein Anfang. Finnlands Grenze zu Rußland ist mehr als 1.300 Kilometer lang; die NATO muß sich in die Lage versetzen, sie zu militarisieren. Umso mehr, als Rußland bereits beginnt, auf die Bedrohung durch einen finnisch-schwedischen NATO-Beitritt zu reagieren: Es hat eine deutliche Verstärkung seiner Nordflotte angekündigt.
Das Wettrüsten ufert immer weiter aus; es beschränkt sich nicht mehr nur auf Ost- und Südosteuropa, es erfaßt in zunehmendem Maß auch den Norden des europäischen Kontinents. Ob die deutsche Bundeswehr sich künftig auch an der Stationierung von Battlegroups an der finnisch-russischen Grenze beteiligen wird? Wer weiß. Die Front jedenfalls wird systematisch aufgebaut.