Ausland05. Oktober 2021

Italien: Haftstrafe für Flüchtlingshelfer

Weltbekannter Ex-Bürgermeister von Riace, Mimmo Lucano, wegen Beihilfe zu »illegaler Migration« verurteilt

von Gerhard Feldbauer

Ein Gericht in Locri in der süditalienischen Region Kalabrien hat den bekannten Flüchtlingshelfer und früheren Bürgermeister der kleinen, kaum mehr als 2.000 Einwohner zählenden Gemeinde Riace, Domenico »Mimmo« Lucano, zu 13 Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Das Strafmaß liegt fünf Jahre höher als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Der 63-Jährige wurde der Beihilfe zu »illegaler Migration« und in Zusammenhang damit des Betrugs, der Veruntreuung, des Amtsmißbrauchs und der Bildung einer kriminellen Vereinigung beschuldigt, berichtete die italienische Nachrichtenagentur ANSA. Außerdem muß Lucano 500.000 Euro zurückzahlen, die die Regierung in Rom und die EU für Flüchtlinge bereitgestellt hatten.

Seit Oktober 2018 stand Lucano unter Hausarrest. Der Verurteilte, der den Richterspruch als eine »unerhörte Geschichte« bezeichnete, erklärte, »mir fehlen die Worte. Das habe ich nicht erwartet.« Er habe sein Leben damit verbracht, gegen die Mafia zu kämpfen, sich auf die Seite der Schwachen gestellt, und nun werde er wie ein Mafioso verurteilt.

Seine Anwälte Giuliano Pisapia und Andrea Daqcua, die den mittellosen Angeklagten kostenlos verteidigten, sprachen von einem »politisch motivierten« Prozeß, einer »ungerechtfertigten Verurteilung, die völlig im Widerspruch zu den Beweisen steht«. Ihr Mandant lebe in Armut und habe keine finanziellen oder anderweitigen Vorteile aus seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Riace gezogen. Sie legten sofort nach der Verlesung des Urteils Berufung ein.

Lucano gehörte zu den Bürgermeistern, die sich wie Leoluca Orlando aus Palermo, Luigi de Magistris aus Neapel oder Giuseppe Sala aus Mailand geweigert hatten, das vom damaligen Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini (2018/19), dem Chef der faschistischen Lega, eingebrachte rassistische und gegen die italienische Verfassung verstoßende »Sicherheitsgesetz« anzuwenden.

Lucano trat für die Öffnung der Häfen für Schiffe mit Flüchtlingen ein. Er brachte die Migranten in leerstehenden Häusern unter und half ihnen materiell. Daß er Italiener, die Migrantinnen heirateten, bei der Eheschließung unterstützte, wurde ihm im Prozeß als das Organisieren von Scheinehen angelastet, mit denen er den Frauen Aufenthaltsgenehmigungen verschafft habe. Daß er die Abfallentsorgung des Dorfes nicht öffentlich ausgeschrieben und statt dessen an Genossenschaften vergab, denen Migranten angehörten, wurde als Amtsmißbrauch ausgelegt.

Riace wurde unter seinem Bürgermeister Lucano weltbekannt und erhielt den Namen »Willkommensstadt«. 2016 wurde ihr Bürgermeister in die Liste der 100 einflußreichsten Persönlichkeiten des US-amerikanischen Magazins »Fortune« aufgenommen. 2010 erhielt Lucano die Auszeichnung als drittbester Bürgermeister der Welt und inspirierte Wim Wenders zu einem Film. Die Stadt Dresden zeichnete ihn 2017 mit ihrem Internationalen Friedenspreis aus.

Das Urteil hat nicht nur in Italien eine Welle der Empörung ausgelöst. Seenotrettungsorganisationen reagierten entsetzt. Lucano habe seiner Stadt Leben und Zukunft durch Willkommenskultur und Solidarität gegeben, twitterte beispielsweise Sea-Watch Italien. Die Gruppe Mediterranea Saving Humans bezeichnete das Urteil als beschämend. Die linke Tageszeitung »Manifesto« verwies in ihrer Berichterstattung darauf, daß am Sonntag und Montag in Kalabrien ein neues Parlament und ein Präsident gewählt wurden und Lucano für den Regionalrat kandidiert hat.

Während Italiens Linke empört reagieren, begrüßte die faschistische Allianz den Richterspruch und erhofft sich für ihren Präsidentschaftskandidaten bei der Wahl Stimmenzuwachs. »Die Linke stellt Kandidaten auf, die zu 13 Jahren Haft verurteilt wurden«, hetzte Lega-Chef Salvini. Beobachter gaben zu bedenken, daß das Urteil gegen Lucano am Vorabend der Wahlen gefällt wurde – der Prozeß gegen Salvini wegen der gegen die Verfassung verstoßenden »Flüchtlingsabwehr«, gegen die Lucano Widerstand geleistet hatte, wurde hingegen erneut verschoben.