Ausland20. November 2021

Desinformation statt Journalismus

Die Lage in Äthiopien wird unübersichtlicher

von Valentin Zill

Seit einem Jahr kämpft die Tigrinische Volksbefreiungsfront (TPLF) gegen die Zentralregierung Äthiopiens. Auch eritreische Truppen sollen zeitweise in den Krieg involviert gewesen sein, an der Seite Äthiopiens. Bürgerliche Medien werfen dem äthiopischen Präsidenten Abiy Ahmed vor, mit sexualisierter Gewalt und der Unterbindung von Hilfsgüterlieferungen gegen die Menschen im Tigray vorzugehen. Manche Blätter unterstellen ihm gar Völkermord.

Fakten von Propaganda zu unterscheiden, wird immer schwieriger. Die Quellenlage ist dürftig. Westliche Medien lassen zentrale Informationen weg.

Anfang November hieß es, die TPLF habe Dessie und Kombolcha eingenommen. Die beiden Kleinstädte im Regionalstaat Amhara liegen weniger als 400 Kilometer von Addis Abeba entfernt und sind Verkehrsknotenpunkte auf dem Weg nach Dschibouti. Über dessen Hafen bezieht das Binnenland Äthiopien lebenswichtige Güter. Innerhalb weniger Tage bis Wochen werde man die Hauptstadt erreichen und die Regierung Abiy Ahmeds absetzen, tönte TPLF-Sprecher Getachew Reda.

Was fehlt in der Berichterstattung der meisten europäischen Medien? Zum einen der nicht ganz unwesentliche Hinweis, daß hunderttausende Äthiopier auf großen Demonstrationen lautstark ihre Unterstützung für die äthiopische Zentralregierung kundgaben.

Sie haben nicht vergessen, daß die TPLF, die 1991 – mit westlicher Unterstützung – die Regierung Mengistu Haile Mariams stürzte, verantwortlich ist für die Verfassung von 1994. Mit dieser Verfassung gliederte die TPLF Äthiopien föderal, anhand ethnischer Kriterien. Blanker Wahnsinn in einem Land mit mehr als 80 Ethnien. Politische Opposition drückt sich seitdem zwangsläufig entlang ethnischer Linien aus.

Bis zur Wahl Abiy Ahmeds im April 2018 regierte die TPLF mittels der von ihr kontrollierten »Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker« (EPRDF). Eine kleine tigrinische Elite bereicherte sich schamlos, während Errungenschaften der Regierung Mengistu zurückgenommen wurden.

Zum anderen fehlt eine stichhaltige Erklärung für das militärische Eingreifen Eritreas. Das erschließt sich nur, wenn man weiß, daß die TPLF den aktuellen Bürgerkrieg am 3. November letzten Jahres mit einem Überraschungsangriff auf das Nordkommando des äthiopischen Militärs begonnen hatte. Die TPLF sprach von einem »Blitzkrieg« und hatte vor, in Eritrea einzumarschieren, um dort einen »Regimewechsel« herbeizuführen und große Teile Eritreas dem Tigray zuzuschlagen. Eritrea schickte Militär zur Verteidigung – mit Billigung der äthiopischen Regierung!

Besonders gefährlich wurde der EPRDF die Unzufriedenheit der größten Ethnie Äthiopiens, der Oromo. Deren Regionalstaat umschließt die Hauptstadt Addis Abeba. Teile der Oromo dringen auf Sezession von Äthiopien und die Übernahme der Hauptstadt. Die bildet nämlich eine autonome Region, die als einzige des Landes nicht nach ethnischen Kriterien strukturiert ist. Wie auch, in der multiethnischen Metropole? Die Terrororganisation »Oromo-Befreiungsarmee« (OLA) verbündete sich Anfang November diesen Jahres mit dem alten Erzfeind TPLF.

Die propagierten gemeinsamen militärischen Erfolge verweist die äthiopische Zentralregierung ins Reich der Phantasie.