Leitartikel20. Januar 2022

Lehrstück über den Charakter des bürgerlichen Staates

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Die Affäre um Partys in 10 Downing Street während des Corona-Lockdowns, die dem britischen Premier Boris Johnson den Job kosten könnte, ist zugleich ein Lehrstück über den Charakter des bürgerlichen Staates, in dem je nach der Menge des angehäuften Kapitals mit unterschiedlichem Maß gemessen wird.

Das gilt auch für die Sicherheitskräfte des bürgerlichen Staates. Denn wenn der britische Premier in seinem Amtssitz jeden Freitag Partys für seine Mitarbeiter veranstaltet hat, obwohl Treffen in Innenräumen gemäß den Lockdown-Regeln seiner eigenen Regierung streng verboten waren, dann müssen doch Agenten der im Großraum London zuständigen Metropolitan Police die gemäß der Einladungen mit Wein-, Prosecco- und Bierflaschen beladenen Partygäste dutzendfach durch die Sicherheitsschleusen geleitet und ihnen anschließend stundenlang über die Sicherheitskameras beim Feiern zugeschaut haben. Hätten die Polizisten diese schweren Brüche der Corona-Regeln nicht ungeachtet der Person zur Anzeige bringen müssen?

Zumal einfache Arbeiter während des Lockdowns von der Metropolitan Police verhaftet (!) wurden, weil sie im Freien Cricket gespielt haben, oder weil sich mehr als zwei Personen getroffen haben. Allein in England wurden Tausende für solche minderschweren Verstöße gegen die Corona-Regeln vor Gericht gestellt und abgeurteilt.

Am 3. März 2021 wurde Sarah Everard im Süden Londons von einem Polizisten der Met-Abteilung für parlamentarischen und diplomatischen Schutz angeblich wegen eines Corona-Deliktes angehalten, bevor der Polizist die 33-Jährige verschleppte, vergewaltigte und ermordete.

Als es nach Bekanntwerden des Verbrechens in den Straßen Londons zu Solidaritätsbekundungen von vor allem Frauen kam, wurden diese unter Berufung auf die COVID-Gesetze brutal aufgelöst. Im Internet veröffentlichte Videos zeigen, wie mehrere Frauen gewaltsam abgeführt werden. Das Foto einer dieser Frauen ging um die Welt.

Bezeichnend ist auch, daß sich der Metropolitan Police Service anfangs weigerte, eindeutigen und mit Fotos belegten Hinweisen auf wöchentliche Partys in der Downing Street während des Lockdowns auch nur nachzugehen.

Und während in No 10 gefeiert wurde und die Börsenwerte vieler in der Coronakrise besonders gefragter Konzerne in die Höhe schossen, verloren Zehntausende britische Schaffende ihren Arbeitsplatz, wurde der staatliche Gesundheitsdienst NHS weiter privatisiert, stiegen die Lebenshaltungskosten im ganzen Land unaufhörlich weiter und wurden Tausende Familien ihrer Wohnung beraubt, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten.

Doch davon findet sich wenig in der britischen und kontinentaleuropäischen Mainstreampresse, in der auch die Tatsache, daß Johnson gerade dabei ist, mit einem neuen Polizeigesetz das Versammlungsrecht einzuschränken, ins Hintertreffen geraten ist. So soll die Demonstrationsfreiheit eingeschränkt werden, wenn nach Einschätzung der Polizei »zu großer Lärm«, eine Blockade des Verkehrs oder »schwerwiegende Störungen« von Geschäften zu befürchten sind. – Wohlwissend, daß alle drei Einschränkungsgründe auch bei einem Streikposten oder einem Protestpiquet vorliegen können.

In der Nacht zu Dienstag legte das Oberhaus dem Premier allerdings noch einmal Steine in den Weg und lehnte mehrere Paragraphen des Gesetzentwurfs ab. Nun wird der Entwurf zurück ans Unterhaus geschickt. Es wird erwartet, daß dort die Regierungsmehrheit die Änderungen weitgehend wieder zurücknimmt.