Leitartikel19. Oktober 2016

Aggressive ManöverVerpatzte Lobhudelei für Keynes

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Im 70. Todesjahr von John Maynard Keynes, das zugleich das sechzigste seit der Veröffentlichung seines Hauptwerks über die »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« ist, sah sich das »Tageblatt« veranlaßt, dem britischen Ökonomen ein Denkmal zu setzen. Doch wer sich nun erhoffte, der »t«-Kommentar hätte kapitalistische Krisen im Allgemeinen und die gegenwärtige im Besonderen zum Thema, sah sich enttäuscht.

Statt Keynes’ Theorie, Arbeitslosigkeit sei die Folge ausbleibender Investitionen wegen zu geringer Profiterwartungen des Kapitals, als Gegenentwurf zum klassischen Liberalismus zu beschreiben, wird Keynes gewaltig überhöht und gegen Karl Marx in Stellung gebracht: »Wie alle wissen, standen sich im 20. Jahrhundert zwei Giganten gegenüber, Marx und Keynes, und John Maynard Keynes widerlegte Karl Marx, woraufhin der Kommunismus schließlich zusammenbrach.« Aha. Haben wir das also auch geklärt.

Ein paar Zeilen zuvor wird diese absonderliche These näher ausgeführt: »Der Marxismus hat den Mehrwert in der Produktion wahrgenommen, weshalb auch der Kommunismus wie jedem bekannt zusammenbrach.« Womit wir auch schon den Denkfehler des »Tageblatts« identifiziert haben: Hier wird offensichtlich übersehen, daß »Mehrwert« eine ökonomische Kategorie ist, die nur im Kapitalismus volle Gültigkeit besitzt. Auch mit der Unterscheidung zwischen Mehrwertproduktion und der Realisierung desselben scheint der Autor seine Probleme zu haben.

Dankenswerterweise spricht er hier aber ein grundlegendes Problem des Kapitalismus an, das der Profitrealisierung. Denn die Arbeiter haben im Kapitalismus ja nicht nur die Funktion, Mehrwert zu produzieren. Sie stellen auch die Masse der Konsumenten. Wenn man ihnen einen möglichst niedrigen Lohn zahlt – einer, der jedenfalls niedriger ist als der Gesamtwert ihrer Produktionstätigkeit –, dann können sie sich nun mal nicht allzu viele Güter leisten. Die Kapitalisten bleiben auf einem Teil ihrer Waren sitzen, die Produktion wird zurückgefahren oder ganz eingestellt, Arbeiter werden entlassen – die regelmäßigen Höhepunkte dieser dem Kapitalismus wesenseigenen Entwicklung sind Krisen.

Wie Marx im ersten Band seines Hauptwerks »Das Kapital« aufzeigt, kommt es im Kapitalismus unabhängig von äußerlichen Faktoren wie Mißernten oder Ölverknappungen zur Unterbrechung des Aufschwungs oder gar zum Ausbruch einer Krise. Deren typische Form ist eine Überakkumulations- oder Überproduktionskrise. Damit meint Marx, daß im Aufschwung, wenn die Profite hoch sind und noch steigen, die Kapitalisten in Erwartung dessen ihre Gewinne reinvestieren und die Produktion erweitern, und zwar so lange, bis die Nachfrage, die letztlich von der langsamer steigenden Lohnsumme begrenzt wird, hinter der Produktion zurückbleibt.

Die Ausweitung der Produktion stößt also an jene Grenze, die sich der Kapitalismus mit dem möglichst geringen Lohnniveau der Arbeiter selbst zu schaffen gezwungen ist, was wiederum deren mangelnde Kaufkraft bei gleichzeitig gestiegener Produktivität bedeutet: Es werden mehr Waren produziert als verkauft. Diese Überproduktion ist jedoch eine relative. Keineswegs handelt es sich um ein Zuviel für die Bedürfnisse der Menschen, lediglich um ein Zuviel für deren Portemonnaies, damit aber auch um ein Zuviel, um dieses Kapital in Profit zu verwandeln.

Oliver Wagner