Leitartikel27. Oktober 2021

Vom Grundrecht auf angemessene gesundheitliche Fürsorge

von Ali Ruckert

Die Wende hin zur ambulanten Behandlung im Gesundheitswesen, wie sie derzeit hierzulande verstärkt propagiert wird, hat nicht nur Vorteile. Abgesehen davon, dass unter den gegebenen Bedingungen die Gefahr besteht, dass es zu einer Privatisierung von medizinischen Aktivitäten kommt, gibt es Anzeichen dafür, dass der ambulanten Behandlung und der Betreuung von Patienten zu Hause in manchen Fällen nur deshalb der Vorzug gegeben wird, weil die Krankenhäuser vollständig überlastet sind, und weder genügend Betten noch Personal zur Verfügung stehen, um eine medizinische Betreuung rund um die Uhr zu gewährleisen.

So soll es vermehrt vorkommen, dass Ärzte Patienten ins Krankenhaus einweisen, zum Beispiel wegen »akuter allgemeiner Schwäche«, diese dann aber nach zwei oder drei Tagen nach Hause geschickt und ambulant versorgt werden, nicht weil ihre körperliche und gesundheitliche Verfassung sich über Nacht verbessert hätte, sondern weil die Betten anderwärtig gebraucht werden. Eines von vielen Beispielen dafür, wie die schäbige Wirklichkeit in einem der reichsten Länder der Welt hinter dem »Triple A« versteckt wird.

Nun sind diese Probleme nicht neu, doch sie haben zugenommen, und die Gesundheitskrise hat dazu geführt, dass man sie wie in einem Brennglas erkennen kann.

Inzwischen ist es offensichtlich, dass die Abschaffung von Krankenhausbetten, wie sie lange von neoliberalen Kräften vorangetrieben wurde, eine Maßnahme war, die zu einer Verschlechterung der öffentlichen Gesundheitsfürsorge führte. Das Gleiche gilt für den von der Regierung und den Führungskräften in den Gesundheitsstrukturen organisierten Personalmangel, der eine der Folgen der Sparpolitik und der Respektlosigkeit gegenüber den Schaffenden im Gesundheitswesen ist.

Die chronische Unterbesetzung im Bereich der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger kommt zum Beispiel allein daher, dass aus Spar- und Profitgründen den tatsächlichen Bedürfnissen nicht Rechnung getragen wurde, indem ein Berechnungssystem ausgearbeitet wurde, das von vorneherein für ein Arbeitsvolumen von 100 Prozent lediglich einen Personalbedarf von 82 Prozent einkalkulierte. In anderen Worten: Der Personalmangel und der daraus folgende Stress und die Überstrapazierung des Gesundheitspersonals waren einkalkuliert, Bis dato hat sich das nicht geändert.

Nun kann die Regierung noch so viele »Gesundheitstische« einsetzen, das nutzt alles nichts, wenn keine Abkehr von der Sparpolitik erfolgt, die daran nicht unschuldig ist, dass Gesundheitseinrichtungen zentralisiert und die Bedürfnisse der Versicherten und Patienten in erster Linie durch die Brille der Rentabilität gesehen werden. So gesehen ist ein Paradigmenwechsel notwendig.

Ein erster Schritt in diese Richtung wäre eine Aufstockung des Personals im Krankenhausbereich zwischen 10 und 20 Prozent je nach Bereich, eine deutliche Aufbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Gesundheitsbereich, eine verstärkte Ausbildung von Gesundheitskräften hierzulande, verbunden mit einer Reform der Ausbildung, konkrete Maßnahmen, um dem wachsenden Mangel an Allgemeinmedizinern entgegenzuwirken und eine Dezentralisierung und Verstärkung der medizinischen Grundversorgung.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Regierenden das aus eigenem Antrieb durchsetzen werden, denn in einer Gesellschaft, in welcher der Profit vor dem Menschen geht, steht die konkrete Verwirklichung des Grundrechts auf angemessene gesundheitliche Fürsorge nicht unbedingt an erster Stelle, es sei denn, die Schaffenden und ihre Organisation sorgen dafür, dass dies durchgesetzt wird.