Leitartikel11. Mai 2021

Tag des Sieges und »Europatag«

von Uli Brockmeyer

Es ist ganz gewiß kein Zufall, daß schlaue Leute in einer der oberen Etagen der Europäischen Union auf die Idee gekommen sind, ausgerechnet den 9. Mai zum »Europatag« zu deklarieren. Auch wenn es zunehmend in Vergessenheit gerät: Der 9. Mai wurde in der Sowjetunion als Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus begangen. An diesem Tag jährte sich in diesem Jahr zum 76. Mal der Moment, an dem die Chefs der faschistischen deutschen Wehrmacht in Berlin-Karlshorst die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichneten – eine reichliche Woche nach dem feigen Selbstmord ihres Oberbefehlshabers, und eine Woche nachdem Soldaten der Roten Armee zu Ehren des 1. Mai, des Internationalen Kampftages der Arbeiterbewegung, das rote Siegesbanner auf dem Dach des Gebäudes des Reichstages in Berlin gehißt hatten.

Dieser Sieg ist unter unbeschreiblichen Opfern erkämpft worden. Allein die Völker der Sowjetunion bezahlten ihn mit 27 Millionen Toten – Zivilpersonen, Soldaten, Partisanen. Die Sowjetunion trug die Hauptlast bei der Zerschlagung der Armeen der deutschen Interventen und ihrer Verbündeten. An ihrer Seite kämpften Millionen Menschen in den besetzten Ländern, mit der Waffe in der Hand, mit Sabotageakten, mit der Aufklärung der Bevölkerung durch Flugblätter, mit dem Verbergen von Personen, die von den Besatzern gesucht wurden, mit der Weitergabe von Informationen an die gegen die Nazis kämpfenden Truppen und Partisanen…

Viel zu spät und zum Teil sehr widerstrebend hatten sich die USA und Britannien dazu durchringen können, die mehrmals versprochene Zweite Front im Westen Europas zu eröffnen. Erst im Sommer 1944 setzten die westlichen Alliierten in der Normandie auf das europäische Festland über. Zuvor lieferten sie sich Schlachten in Nordafrika und in Süditalien, wobei es ihnen eher um Geländegewinne für spätere Einflußgebiete ging als um die Zerschlagung der faschistischen Macht. Und die Front im Westen, die eigentlich die kämpfenden sowjetischen Truppen entlasten sollte, kam immer wieder ins Stocken, wie zum Beispiel bei der sogenannten Ardennenoffensive der Wehrmacht, die erst gestoppt werden konnte, als die Rote Armee auf dringende Bitte des britischen Premierministers ihre Offensive an der Weichsel in Polen früher eröffnete als geplant.

Keine Frage, wir sind den Soldaten der westlichen Alliierten sehr dankbar für die Befreiung Luxemburgs. Wir sind sicher, daß die vielen Soldaten, die schließlich über die Mosel und die Our auf deutsches Territorium übersetzten, ehrlichen Herzens die Faschisten vernichtend schlagen wollten.

Doch leider wird heute ein großer Teil der Geschichte anders dargestellt. Und diese neue Interpretation wird schamlos ausgenutzt, um die Rolle der Sowjetunion, ihrer Armee und ihrer kommunistischen Partei zu diskreditieren – und zugleich eine gegen Rußland gerichtete haßerfüllte Politik zu »rechtfertigen«.

Der »Europatag« soll nach und nach die Erinnerung an den Tag des Sieges überschatten. Solange die Europäische Unon sich heuchlerisch als »Hüterin der Menschenrechte« darstellt und gleichzeitig Tag für Tag grundlegende Menschenrechte verletzt, kann der »Europatag« jedoch kein Grund zum Feiern sein. Ein »Europatag« kann erst dann zu einem Feiertag werden, wenn auch das Vermächtnis aller Kämpfer und die Lehren aus dem Kampf gegen den Faschismus darin ihren Platz finden.