Leitartikel

Unser Leitartikel : Der schöne Schein »Europa«

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Wo liegt eigentlich Europa ? Wer in Geographie nicht permanent gefehlt hat, weiß, daß Europa ein Kontinent ist, der sich von der portugiesischen Atlantikküste im Westen bis zum Uralgebirge – mitten in Rußland – im Osten erstreckt. Mit einem kurzen Blick in den Atlas läßt sich sehr leicht herausfinden, daß die Ukraine mit ihrem gesamten Territorium innerhalb dieses Kontinents liegt. Und dennoch demonstrieren in Kiew und anderen ukrainischen Städten zehntausende Menschen für den Anschluß ihres Landes an Europa. Wie kommt das ? Haben diese Menschen einen anderen Atlas als wir ?

Die Antwort ist leicht, und dennoch kompliziert. Natürlich gibt es in der Ukraine keine anderen Landkarten als in Westeuropa. Aber die Chefs der Europäischen Union und die Medien, die deren Weltauffassung verbreiten, sind der Meinung, daß die EU und Europa identisch sind. Und daß dieses »Europa« kurz davor ist, das Paradies auf Erden zu sein. Viele Millionen Menschen, die auch in Europa leben, fühlen sich davon ausgeschlossen. Ein großer Teil der Ukrainer hält das offenbar für ungerecht und möchte das ändern. Soweit die einfache Antwort.

Komplizierter wird es, wenn man die eigentlichen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge ein wenig näher untersucht. Die Europäische Union wurde bekanntlich gegründet, um den nach dem Zweiten Weltkrieg erneut aufstrebenden kapitalistischen Großbetrieben und Banken einen möglichst hindernisfreien, also hemmungslosen Weg zur Vermehrung ihrer Profite zu eröffnen. Das ist in den vergangenen 60 Jahren oft recht gut gelungen. Als es vor 25 Jahren nicht mehr ganz so gut lief, half den Herren der EU die schrittweise Erweiterung nach Osten. Durch die Einverleibung der früheren sozialistischen Länder fielen den führenden Unternehmen riesige neue Märkte quasi in den Schoß, Millionen von »Verbrauchern« , denen man leicht einreden konnte, daß die Produkte des eigenen Landes nichts taugten und daß sie lieber die Waren aus dem goldenen Westen kaufen sollten.

Die Folgen dieser Entwicklung sind bekannt. Westliche Unternehmen kamen zu neuen Produktionsrekorden, deren Besitzer und die Couponabschneider füllten ihre Taschen und Keller, während die Bevölkerung der einverleibten Länder immer mehr verarmte. Ähnlich verhielt es sich dann mit der Einführung des Euro, der einen weiteren Aufschwung für die Gewinnraten der Banken und Großunternehmen brachte. Mit dem ebenfalls bekannten Ergebnis : siehe Griechenland, Spanien, Portugal…

Nun suchen die Herrschenden der EU nach weiteren Expansionsfeldern. Die Ukraine mit mehr als 45 Millionen potentiellen »Verbrauchern« wäre ein toller Fang. Nur leider hat es nicht ganz so geklappt, weil die Regierenden in der Ukraine natürlich die Interessen ihrer eigenen Kapitalisten vertreten – und ein wenig auch die der einfachen Manschen. Als klar wurde, daß aus einem bereits unterschriftsreifen Assoziierungsabkommen nicht genügend herauszuholen war, wurde die Unterschrift kurzerhand »zeitweilig ausgesetzt« .

Zehntausende Ukrainer, denen man in den letzten Jahren immer wieder die prallvollen Schaufenster im goldenen Westen vor Augen geführt hatte, nicht jedoch die Zahlen der Arbeitslosen und der unter der Armutsgrenze lebenden »Europäer« , sind nun enttäuscht und protestieren. Und werden dabei weiter geblendet, so daß sie kaum in der Lage sein werden, zu erkennen, mit welchen Lügen man sie auf die Straßen gelockt hat.

Uli Brockmeyer