Ausland30. November 2021

Nützliche Kriegsszenarien

Debatte um russische Truppen an der Grenze zur Ukraine hilft, neue Schritte zur Aufrüstung Kiews zu legitimieren.

von German Foreign Policy

Berliner Regierungsberater dringen vor dem heutigen Treffen der NATO-Außenminister auf militärische Schritte zur Unterstützung der Ukraine und schlagen die Vorbereitung weiterer Sanktionen gegen Rußland vor. Die EU könne etwa militärisch »im Schwarzen Meer Präsenz zeigen«, heißt es von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zur Begründung heißt es, Moskau bereite einen Angriff auf die Ukraine vor. Als »Beleg« dient die Behauptung, Rußland habe bis zu 110.000 Soldaten unweit der Grenze zur Ukraine massiert.

Aus »Sicherheitskreisen« lanciert

Was es mit dem angeblichen russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine auf sich hat, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Klar ist, daß die Behauptung, Rußland massiere dort bis zu 110.000 Soldaten, seit Ende Oktober von nicht näher bezeichneten »Sicherheitskreisen« der USA lanciert wird. Als Beleg wird unter anderem eine Satellitenaufnahme angeführt, die zahlreiche russische Militärfahrzeuge zeigt, sowie auch Kampfpanzer. Sie soll aus Jelnja stammen; die Kleinstadt liegt in der Oblast Smolensk nahe der Grenze zu Belarus und ist von der Grenze zur Ukraine gut 250 Kilometer entfernt.

Experten weisen auf die Tatsache hin, daß die russischen Streitkräfte noch nicht all ihre Einheiten, die seit dem Umsturz in der Ukraine und deren Hinwendung zur NATO im Jahr 2014 im Westen des Landes neu etabliert wurden, vollständig mit Personal und Gerät ausgestattet haben. In Jelnja etwa ist, wie Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) betont, seit 2015 die 144. Schützendivision stationiert, aber bis heute immer noch nicht komplettiert worden. Die neu eingetroffenen Truppen könnten dazu dienen.

»Defender Europe«

Sollte es sich bei den etwa in Jelnja neu eingetroffenen Truppen tatsächlich um zusätzliche Soldaten handeln und nicht lediglich um die Auffüllung lange geplanter und bekannter Einheiten, dann wäre immer noch ungewiß, worauf ihre Stationierung im Detail zielt. In den vergangenen zwei Jahren haben die USA sowie zahlreiche Verbündete aus Europa mit den »Defender Europe«-Manövern den Aufmarsch in Richtung russische Grenze geprobt – zunächst im Nordosten (2020), dann im Südosten (2021) des NATO-Gebiets. Rußland muß die Aufmarschdrohung in der einen oder anderen Form beantworten.

Jelnja liegt recht genau in der Mitte zwischen den beiden potenziellen Aufmarschregionen; dort stationierte Truppen können je nach Bedarf binnen kürzester Frist in beide entsandt werden. Selbst USA-Experten weisen zudem darauf hin, daß es sich bei der Stationierung zusätzlicher Truppen um eine Reaktion auf stärkere Militäraktivitäten der USA im Schwarzen Meer handeln kann.

Kein Interesse an einem Angriff

Russische Außenpolitikexperten wiederum betonen, ein angeblich drohender russischer Angriff auf die Ukraine ergebe aus russischer Sicht wenig Sinn. So wären russische Truppen auf ukrainischem Territorium auch dann, wenn die westlichen Staaten nicht unmittelbar intervenieren sollten, wohl stetigen Angriffen ausgesetzt, schrieb in der vergangenen Woche Iwan Timofejew vom Russian International Affairs Council (RIAC). Je nach Szenario würde es sich um Angriffe der ukrainischen Streitkräfte oder von Guerillakämpfern handeln; in beiden Fällen wäre fest davon auszugehen, daß sie vom Westen massiv aufgerüstet und unterstützt würden.

Hinzu kommt laut Timofejew, daß Moskau im Fall eines Angriffs auf die Ukraine mit einer dramatischen Ausweitung der westlichen Sanktionen rechnen müßte; ob diese überstanden werden könnten, sei nicht klar. Nicht zuletzt setze die russische Regierung mit einem Überfall auf das Nachbarland ihren Ruf aufs Spiel und müsse eine umfassende diplomatische Isolation befürchten, urteilt Timofejew.

Moskaus »rote Linien«

Timofejew geht entsprechend davon aus, daß ein Krieg zwischen Rußland und der Ukraine keiner der beiden Seiten nutzt – daß aber die Drohung mit einem Krieg unter Umständen für alle Beteiligten Vorteile bringt. Moskau könnte damit demnach deutlich machen, daß es auf seinen »roten Linien« beharrt und es nicht zulassen wird, daß sie überschritten werden. Zu diesen »roten Linien« gehört laut Timofejew der Versuch der Ukraine, »eine militärische Lösung für das Donbass-Problem« herbeizuführen.

Befürchtungen, Kiew schmiede derlei Pläne, wurden verstärkt laut, nachdem die ukrainischen Streitkräfte am 26. Oktober erstmals eine aus der Türkei gelieferte Drohne des Modells Bayraktar TB2 in den Kämpfen im Donbass eingesetzt hatten. Der Einsatz läuft einer Vereinbarung vom Juli 2020 zuwider, die, um »den Waffenstillstand zu stärken«, »ein Verbot des Einsatzes von Flugapparaten jeglicher Art« vorsieht. Kritiker weisen darauf hin, daß türkische Bayraktar-Drohnen zuletzt in mehreren militärischen Einsätzen entscheidende Bedeutung erlangt haben.

Die Aufrüstung der Ukraine

Vor allem aber nützt die Behauptung, Rußland plane einen Überfall auf die Ukraine, laut Timofejew dem Westen: Sie ist geeignet, die Ausweitung der militärischen Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte und gegebenenfalls auch die Nutzung ukrainischen Territoriums durch westliche Truppen zu legitimieren.

Tatsächlich wird in der EU unter anderem über einen militärischen Ausbildungseinsatz in der Ukraine diskutiert; Britannien unterstützt die Aufrüstung der ukrainischen Marine; die USA ziehen die Ausweitung der Waffenlieferungen an die Streitkräfte des Landes in Betracht. In Deutschland herrscht Uneinigkeit. Während Mitte November "Sicherheitskreise" mit der Einschätzung zitiert wurden, der russische Präsident Wladimir Putin suche »im Bereich des Militärischen keinen großen strategischen Konflikt«, behauptete am Wochenende der Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß: »Ein begrenzter militärischer Angriff, zum Beispiel zur Besetzung des Donbass, ist eine Option Moskaus.« Ähnlich äußert SWP-Experte André Härtel: Er hält eine »russische Invasion« in der Ukraine für »möglich«.

Härtel fordert, »um Moskau von derlei Schritten abzuhalten«, müsse sich der Westen »auf eine Eskalation einstellen« und »neue Sanktionen gegenüber Moskau und Minsk vorbereiten«. Zudem gelte es militärische Schritte einzuleiten: So könne »die EU im Schwarzen Meer aktiv Präsenz zeigen« sowie »existierende bilaterale Militärhilfe in einer effektiven Ausbildungs- und Beratermission ... bündeln«. Weitere Schritte könnten beim Treffen der NATO-Außenminister beschlossen werden, das am heutigen Dienstag in der lettischen Hauptstadt Riga beginnt.