Kultur21. August 2021

IST und WIRD gehen vor GEWESEN

Eigentlich nur ein paar Zeilen über die gutes Gewissen zeugende Akzeptanz gegenwärtigen Horrors dank dem Vergleich mit Vergangenem, inklusive blinde Zerstörungen, Massenmorde und Aushungerungen und ähnliche Plagen!

In der »Frankfurter Allgemeinen« bin ich rein zufällig unter den Titel »Kolonialismus-Debatte: Jane Austens Familie auf dem Prüfstand« (Kommentar von Gina Thomas) vom 8.6.2021 gestoßen. Wen wird’s wundern, dass ich mich als Literaturliebhaber und eingefleischter Antikolonialist zugleich praktisch aufgefordert fühlte, weiter zu lesen? Also: »Welches Verhältnis hatte Jane Austen zum Kolonialismus? Das Jane-Austen-Museum erweitert seine Ausstellung um Hinweise zum Sklavenhandel. Eine Literaturwissenschaftlerin analysiert die politische Einstellung der Familie ganz genau.« Und da schon die kalte Dusche, die Enttäuschung angesichts des durch die Online-Plattformen und sogar (staune!) die seriöse Presse verbreiteten Unsinns der schon bald zum Gemeinplatz ausartenden historischen Prozessmacherei! Zum Kotzen!

Selbstverständlich habe ich somit nicht die geringste Ahnung von dem, was in der »FAZ online« folgt, was mir im Grunde um Frau Gina Thomas’ bestimmt interessante Prosa etwas leid tut. Doch war mir schon beim dritten Satz der Faden soweit irreparabel gerissen, dass dieses mich anekelnde Argument just noch Anlass zu einer schon länger in mir brodelnden Philippika gegen die selbsternannten Richter historischer Moral lieferte. Lese, höre und sehe ich doch seit geraumer Zeit auf allen möglichen Medien zig Varianten vom Virus der Prozessmacherei auf unsere Vorfahren, deren Sünden wir – ach wie nobel! –, in Canossa-Büßergewand und mit Asche bestreut bereuen und dann stellvertretend wiedergutmachen, oder wenigstes formell bereuen sollen. Schuld oder Unschuld? Kriminell oder nur mitwissend? Hilfeverweigernd oder machtlos?

Lachhaft! Stopp! Selbstverständlich hat mein Großvater als Soldat unter König Vittorio Emanuele und Mussolini in einem verwerflichen Kolonialkrieg gegen des »armen« Negus Haile Selassies Soldaten gekämpft. Soll ich mich etwa dafür beim heutigen Präsidenten Äthiopiens entschuldigen? Oder sollen sich meine französischen, deutschen, spanischen oder österreichischen Mitbürger für das Übel, das sie als Invasoren und Okkupanten meinen italienischen Urahnen und Ahnen angetan haben, bei der aktuellen italienischen Regierung entschuldigen? Und warum nicht die Nachfahren der römischen Legionen, der Hunnen, Vandalen, Alanen, usw. oder die Nachfahren Djingis Khans, Timur Langs und Suleimans des Prachtvollen zur Rechenschaft ziehen und auffordern, die Nachkommen ihrer Opfer um Pardon zu bitten?

Soweit, so gut, Frankreichs Präsident Macron hat sich im Namen Frankreichs für das Mitwissen und die Untätigkeit Frankreichs Truppen während des Ruanda-Genozids der Tutsi durch die Hutu entschuldigt, was von Ruandas nicht uninteressiertem Präsidenten freundlicherweise akzeptiert wurde. Und dann? Was soll diese ganze Show? Das Geschehene ist geschehen und kann von keiner selbstzufriedenheitspendenden historischen Masturbation wieder gutgemacht werden. Die Geschichte ist eben das, was sie ist und wie sie ist, war und wurde, ja keinesfalls, was sie unseres Erachtens nach hätte sein sollen.

Geschichte ist das Ergebnis des Seins und des Werdens sowohl natürlicher Gewalten und Zufälle als auch menschlichen Entscheidens, Schaffens, Treibens, Lebens und Erlebens. Natürlich spielen in dieser permanenten shakespeareschen Tragikomödie die Mächtigen dieser Welt entscheidende Rollen. Meistens hatten jedoch diese, diplomatisches oder populistisches Scheinwohlwollen ausgenommen, nie die geringsten Skrupel. Und darüber, in Klammern, eine vielsagende historische bzw. sprachliche Anekdote: das Wort Skrupel stammt aus dem lateinischen SCRUPULI. Damit waren die Steinchen gemeint, die den Legionären, dem Fußvolk, während seiner langen Märsche zwischen Fuß und Sandalensohle sprangen, was das Gehen zum Leidensweg machte, Qual, die den Offizieren und Patriziern zu Pferde und in Sänften erspart blieb. So entstand die Redewendung »keine Skrupel«, als Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber anderer Menschen Missgeschick und Leiden.

Natürlich kann es als recht und billig betrachtet werden, dass man noch lebende Völkermörder, Sklaventreiber, Kinder- und Frauenschänder als Schwerverbrecher verfolgt und verurteilt, solang es unparteiische Justiz ist und nicht bloß das Recht der Sieger. Doch soll man die heutigen Makedonier, Römer und Mongolen wegen der unter Alexander, Cäsar und Djingis Khan erfolgten Zerstörungen, Gemetzel, Frauenschändungen, Ausbeutungen, usw. zur Rechenschaft ziehen? Ist es nicht weitaus logischer, ja sinnvoller, uns mit dem, was heutzutage vor sich geht, zu beschäftigen?

Ist es nicht logischer die heutigen Kriegstreiber, Zivilbevölkerungsmörder, Aushungerer, die tagtäglich vor unseren Augen handeln und wüten, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu stellen? Wann wird es dazu kommen, dass diese kriminellen Machthaber verurteilt und bestraft werden, anstatt sie mit rotem Teppich zu empfangen und mit ihnen so höflich wie höfisch in luxuriösen Sälen über Erdöl, Dollars und über die Krisen, die sie oft selbst provoziert haben, zu diskutieren.

Doch zurück zu Jane Austen mit ihrer Familie und deren Mitwissen, ja sogar mögliche Akzeptanz des Sklavenhandels jener Zeit, als die meisten Europäer und Amerikaner diese als Selbstverständlichkeit betrachteten. Genauso waren die meisten erhabenen Geister, wie Schriftsteller und Philosophen, als Kinder ihrer Zeit, nicht immer imstande, sich von allen Vorurteilen, allem Schlechten und Abwegigen ihres Milieus zu befreien. Manchmal schafften sie es auch nur zum Teil.

Der wegen seiner Weisheit vielgerühmte Plato hielt Sklaven, genau wie Jahrtausende später der Sklavenbefreier Lincoln (komisch, nicht wahr?). Ebenso humanistische Philosophen wie Sokrates, Aristoteles, Cicero oder Seneca. Sogar Jesus soll die im alten Testament gutgeheißene Sklaverei als normal betrachtet und keinesfalls in Frage gestellt haben. »Meint nicht, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten abzuschaffen...«, schrieb Matthäus im Neuen Testament (Vers 17-18). Oder müssten heute vielleicht die Griechen, Römer, Juden und wer weiß noch sich dafür entschuldigen?

Also, um es kurz zu fassen, welche Haltung und Ideen unsere Ahnen, und unsere Urahnen zu moralisch fraglichen, ja verwerflichen Systemen oder Politiken hatten, ist zwar historisch relevant, aber politisch doch sch’ egal. Diese ganze Prozessmacherei ist nur groteske Zeit-, Energie- und Mittelverschwendung. Basta! Genug mit dem ganzen Dreckaufwühlen! OK, André Gide hat es nebst seiner Bisexualität ebenfalls mit noch minderjährigen Jungen getrieben und war somit auch ein Pädophiler. Obwohl in der Literatur schon seit hundert Jahren ein Gemeinplatz, von diesen Historiemoralisten und Belletristikignoranten erst vor kurzem entlarvt, verlangen die selbsternannten Zensoren der Historienwiedergutmachung, dass André Gides Werke aus den Büchereien entfernt werden sollen. Absolut lachhaft!

Lesen und lernen heißt schließlich nicht nachahmen. Oder darf man jungen Leuten nicht mehr über Attilas Feldzüge erzählen, ohne zu riskieren, dass sie sich aufmachen und in Banden mordend, plündernd und vergewaltigend durch die Landschaft streunen?

Vergangenheit darf, kann, ja muss durchforscht, analysiert, soweit wie möglich, verstanden werden, um daraus zu lernen. Aber dies soll des Gegenwartsverständnisses wegen und nicht zu sterilem nachträglichen Bedauern erfolgen, oder – besonders schlimm – zur Rechtfertigung aktueller Grauen (Es war ja schon immer so!). Die Gegenwart beinhaltet schon an sich mehr als reichlich Probleme. Ungerechtigkeiten, Dramen, gar unsagbare Tragödien gehören zum Alltag und verlangen viel mehr Überlegung, Verständnis, Solidarität und Einsatz als wir ihr geben können.

Lasst uns also gegen aktuelles Übel handeln, anstatt unsere Energie gegen jene zu verschwenden, die das Übel der Vergangenheit teilweise oder ganz verschuldet haben könnten. Selbstverständlich interessiert mich das Unrecht an Amerikas Indianern, begangen durch die europäischen Eroberer, sowie die französische Sklavenhaltung und -Schinderei, die zu Duvaliers Aufstand führte, oder Battistas schändliche Diktatur über Kubas Volk. Aber weinen, wenn weinen einen Sinn hätte, muss man eher über das, was heute das kubanische Volk erleidet wegen des willkürlichen selbstverherrlichenden wirtschaftskapitalistische Proselytismus der USA.

Na ja, gerade, welch besseres Beispiel hier geltend machen als das Kubas? Doch geht es nicht um das Kuba von vorgestern, weder um das Kuba der goldgierigen Spanier, oder das des dollarhungrigen USA-Lakaien Batista. Nein, ich meine das Kuba von heute, das durch ein über ein halbes Jahrhundert andauerndes und von 99 Prozent der UNO-Mitgliedstaaten getadeltes Embargo ruinierte Kuba, das unter diesem gewollten Aushungern seiner Bevölkerung durch die reichste und mächtigste Nation der Welt leidet, die USA.

Sollten vielleicht Kuba und die Weltländergemeinschaft darauf warten, dass in nicht allzu ferner Zukunft irgendwelche Apostel der Vergangenheitswiedergutmachung von irgendeinem zukünftigen USA-Präsidenten Reue und Entschuldigungen dafür verlangen? Oder sollte Kuba nicht heute vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen die USA-Regierung Anzeige erstatten?