Leitartikel29. Oktober 2021

Steigendes Selbstbewußtsein

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Die seit Jahren prekärer werdende Situation im Krankenhaus- und Pflegesektor, wenn es um Personaldecke, Arbeitsqualität, Entlohnung und Wertschätzung geht, ist bekanntermaßen spätestens seit Beginn der weltweiten Gesundheitskrise im Frühjahr 2020 vollends zum Sprengsatz geworden.

Die Zeit, als von Balkonen geklatscht wurde, ist längst vorbei. In der vierten Infektionswelle steht das Personal in den Kliniken wieder allein an vorderster Front, während die Stationen sich mit Corona-Fällen füllen. Der Frust ist groß. Mit den Impfunwilligen, aber nicht nur: Die Zuspitzung einer ohnehin kritischen Lage führt nun dazu, daß mitten in der Pandemie etwa in Deutschland immer mehr Pfleger den Dienst quittieren und sich die Lage weiter verschärft.

So spiele laut Deutschem Berufsverband für Pflegekräfte (DBfK) im deutschen Südwesten rund ein Drittel der Intensivpfleger mit dem Gedanken, die Kündigung einzureichen, weil die Arbeitsbedingungen durch die Pandemie ins unermeßliche verschärft wurden, die physische und psychische Belastung an Grenzen stoße und nicht zuletzt, weil viele von ihnen sich zu Beginn der Krise bei Patienten mit Covid-19 angesteckt haben und noch immer unter den Folgen der Krankheit leiden. In der Abteilung Gefäßchirurgie am Uniklinikum Marburg warfen 15 von 16 Pflegern auf einmal das Handtuch, weshalb die Abteilung zeitweise dichtgemacht werden mußte. Lange Arbeitszeiten und Arbeitshetze sollen auch hier der Grund sein.

Viele andere Branchen, die während der Pandemie zeitweise schließen mußten und ihr Personal in schlechter bezahlte Teilzeitarbeit schickten oder gleich ganz entließen, stehen nun plötzlich ohne Angestellte da. Mancher streckte seine Fühler aus in der Zwischenzeit und fand bessere Arbeit in einem ganz anderen Sektor. So jammerten neulich Hoteliers und Restaurantbetreiber im deutschen Fernsehen, daß sie nun sogar bessere Löhne und geregeltere Arbeitszeiten anbieten müßten, um neue Interessenten anzulocken. Das wird künftig wohl auch für den Gesundheitssektor gelten.

Doch Geld ist nur ein Faktor. Auch in diesem Zusammenhang hat die Pandemie schonungslos freigelegt, daß die angebotenen Arbeitsplätze und das Arbeitsplatzmanagement mit seiner einseitigen Flexibilisierung, Ausbildungsdefiziten seinen schlechten Löhnen und den immer mehr Familien- und Freizeit auffressenden Arbeitszeiten nicht dem entspricht, was die Leute sich wünschen. Die Krise hat mehr Menschen ermutigt, aktiv zu werden, um sich eine Arbeit zu suchen, die am ehesten ihren modernen Lebensansprüchen entspricht und nicht wie ein schwerer Stein vor der Höhle des Lebens liegt.

Die jüngeren Menschen scheinen dabei zunehmend kein Interesse mehr auf das Hamsterrad und die vom Lohnerwerb bestimmte tägliche Monotonie des Lebens zu haben. Der »Mitarbeiter des Monats« und die ewige Parole der Unternehmensidentifikation haben ausgedient, Forderungen nach mehr persönlichem Entwicklungsspielraum für eigene Ideen, Aktivitäten und Projekte neben der Zeit des Lohnerwerbs werden lauter. Kurz: Es geht darum, endlich Mensch sein zu dürfen.

So werden sich Betriebe etwas einfallen lassen müssen, um an motiviertes Personal zu gelangen. Einige Firmen in Europa und der Welt sind bereits den Weg in eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit gegangen. Ein kleiner Schritt, dem ein neues gesellschaftliches Arbeitsbewußtsein folgen muß.