Kultur21. September 2021

Wondratscheks neuer Roman

Homer und Dante zum Leben verdammt

von Sebastian Fischer

Homer lebt, Dante auch. Beide uralt. Bei Wolf Wondratschek frönen sie abgeschieden von der Außenwelt alltäglichen Dingen. Schreiben wollen die Dichtergrößen nichts mehr. Aber was stattdessen?

Eine der größten und unbeantworteten Fragen der Weltliteratur bricht Wolf Wondratschek auf einen kurzen Satz herunter. In seinem neuen Roman läßt er Homer im Gespräch mit Dante auf die Feststellung, irgendetwas müsse »durchgesickert sein, daß wir mal Schriftsteller waren« prägnant und mehrdeutig antworten: »Ich war nie einer.« So viel Literaturgeschichte in einer Nußschale.

Denn seit langem bewegt die sogenannte »Homerische Frage« weltweit Altertumswissenschaftler: Gab es Homer überhaupt – und wenn ja: wie viele? Haben die berühmten antiken Epen »Ilias« und »Odyssee« nun einen oder mehrere Dichter? Und wurden die Werke über den Trojanischen Krieg und die Abenteuer des Odysseus tatsächlich schon vor 2.800 Jahren aufgeschrieben – oder doch zunächst nur mündlich überliefert?

Obwohl auch Wondratschek diese Fragen nicht abschließend klärt, zeigt er mit Homer und dessen vier Wörtern, wie feinsinnig sein jüngst erschienener Roman »Dante, Homer und die Köchin« mit den verschiedenen Bedeutungsebenen jongliert – und en passant die literaturhistorische Bildung beim Leser herauskitzelt.

»Als die Helden fielen, fiel die Feder«, sagt Homer gleich am Anfang. »Alles gesagt, alles geschrieben.« Wondratschek konzipiert seine Komödie als ambitionierte Versuchsanordnung: Bei ihm weilen der alte Grieche und sein italienischer Dichter-Kollege aus dem Mittelalter, Dante Alighieri (»Die Göttliche Komödie«), noch heute unter den Lebenden – in nicht mehr bezifferbarem Greisenalter.

Versteckt leben sie in der Anonymität. Sogar Homers legendärer Rauschebart ist abrasiert. In einem Haus irgendwo in Italien haben die beiden Dichtergrößen ihrer Kunst abgeschworen. In ihrer Abgeschiedenheit frönen sie wahlweise dem Klavierspiel oder beweisen sich als Zuträger der Köchin, die weder lesen noch schreiben kann.

Sie telefonieren mit dem englischen Dramatiker William Shakespeare oder quatschen mit der Witwe des irischen »Ulysses«-Autors James Joyce. Und sie erträumen sich ein Haus des Schweigens, in dem es keine Bücher gibt und keine Stifte, kein Papier und keine Gemälde. Daß sie von der Außenwelt dennoch entdeckt werden, dringt nur vage in ihre kleine Welt vor.

Auf Handlung verzichtet der 78-jährige Autor in »Dante, Homer und die Köchin« weitgehend. Der Wiener entwirft ein eher schnurrig-ulkiges Gedankenspiel.

Es ist ein Buch über das Denken: Was würden sie heute von sich geben – ganz unbeobachtet und ohne Auseinandersetzung mit der schnöden Gegenwart? Homer und Dante sinnieren mal tiefgreifend über den Klang von Musik, mal oberflächlich über ihr Lieblingsessen, aber immer mit einem Hadern über ihre von außen aufgedrückte Autorität.

Der in Thüringen geborene und in Karlsruhe aufgewachsene Wondratschek sagte der »Süddeutschen Zeitung« einmal, er baue für sich selbst »auf den Ruhm post mortem«. Seine beiden Komödienhelden wiederum streben das ganze Gegenteil an: daß die Erinnerung an sie ausradiert werde. Homer verlangt von sich selbst: »Schweigen, niemand sein, nichts sein wollen, endlich.« Und Dante will an seinen Denkmälern das Gold aus seinem Namen kratzen.

»Nicht das Feuer, die Teufel, das nicht endende Geschrei der zum Aufenthalt in der Hölle Verdammten« ist für Dante die ärgste Höllenqual, sondern das: »nicht sterben können!« Es ist ein wunderbares Paradox, um das Wondratschek seinen Roman baut: den Fluch der dichterischen Unsterblichkeit.

Sebastian Fischer, dpa