Ausland17. November 2021

Vor der atomaren Konfrontation

Zerstörung des ABM- und INF-Vertrags bringt die Welt an den Rand des Atomkriegs

von Klaus Wagener

Die Situation um Taiwan spitzt sich besorgniserregend zu. USA-Präsident Joseph Biden hat eine Verpflichtung der USA zur Verteidigung der Insel gegen angeblich zu befürchtende Angriffe der Chinesischen Volksbefreiungsarmee betont. Sein Außenminister Antony Blinken hatte geäußert, die Unterstützung seines Landes für die Separatisten in Taipeh sei »felsenfest«. Der Generalstabschef des USA-Militärs, Mark Milley, prahlte vor wenigen Tagen, man sei »absolut« in der Lage, »Taiwan zu verteidigen«.

Genau daran gibt es begründete Zweifel. Biden-Regierung und Pentagon geben sich entschlossen, eine militärische Konfrontation mit China zu riskieren, obwohl ihre Chancen in Reichweite des chinesischen Festlandes alles andere als rosig sind. Das absehbare militärische Desaster einer USA-geführten Interventionsstreitmacht provoziert die Frage nach dem Danach. Beide Staaten sind Atommächte.

Die Zuspitzung der Lage treibt die russische Führung um. Der Einsatz von atomaren Mittelstreckenraketen ist von einem theoretischen Szenario zu einer ganz real bedrohlichen Möglichkeit geworden – und zwar sowohl in Europa als auch in Ostasien. Präsident Wladimir Putin hatte auf dem 16. Ostasiengipfel (eine Veranstaltung der ASEAN-Staaten, an der auch wichtige Staaten wie Australien, China, Japan, Südkorea, Rußland, Indien und die USA teilnehmen) eindringlich vor den Gefahren eines neuen atomaren Wettrüstens und insbesondere vor den Konsequenzen der Auflösung des INF-Vertrags gewarnt.

Am 13. Juni 2002 waren die USA aus dem ABM-Vertrag von 1972 ausgestiegen. Dieser begrenzte das Wettrüsten im Bereich der Raketenabwehrsysteme. Am 2. Februar 2019 stiegen die USA auch aus dem INF-Vertrag von 1987 aus. Er verbot landgestützte Mittelstreckenraketen (see- und luftgestützte Systeme waren nicht erfaßt) mit einer Reichweite zwischen 1.000 und 5.500 Kilometern. Für die Verschrottung dieser Raketengattung waren Millionen in der ganzen Welt auf die Straßen gegangen.

Nun ist die strategisch hochbrisante Lage der 1980er-Jahre zurück – nur auf einer technologisch weitaus fortgeschritteneren Stufe und in einem politisch weitaus instabileren Umfeld.

Um den, wie sie es nennt, »Great Power Competition« – genauer: den Kalten Krieg zur Eindämmung der eurasischen Mächte Rußland, China und Iran – zu befeuern, hat die USA-Führung begonnen, aggressive Klientelstaaten – etwa die Ukraine und Taiwan, aber auch Israel – zu provokativen Handlungen bis hin zu Kriegsdrohungen zu ermutigen. Die Ukraine wie auch Taiwan existieren als mehr oder weniger selbstständige Entitäten ausschließlich aufgrund des geostrategischen Interventionismus der USA. Die Ermutigung der Faschisten und Protofaschisten in Kiew, der Separatisten in Taipeh oder der expansiven Zionisten in Jerusalem setzt ein Momentum in Kraft, bei dem letztlich der Schwanz mit dem Hund zu wedeln in der Lage ist. Eine derart weitgehende öffentliche Verpflichtungserklärung Washingtons für Taiwan ist für die Separatisten so etwas wie die Generalermächtigung zum Krieg – eine Gelegenheit, die, aus ihrer Sicht, möglicherweise so schnell nicht wiederkommt. Aus der Perspektive Kiews und Jerusalems sieht es ähnlich aus.

Allerdings hat sich auch die konventionelle militärstrategische Lage in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gewandelt. Auch mit der Kriegsmaschine der USA im Rücken können die Provokateure nicht mehr damit rechnen zu gewinnen – nicht einmal gegen den Iran. Und bei einer katastrophalen Niederlage USA-geführter Interventionskräfte, beispielsweise der Versenkung eines oder mehrerer Flugzeugträger, steht die Option von Atomwaffen ganz unmittelbar. Wieder einmal – wie schon im Koreakrieg der 1950er-Jahre.

Mittelstreckenraketen der USA verändern das strategische Kräfteverhältnis dramatisch. In Europa oder auf der Stützpunktkette um China stationiert, können sie den jeweiligen Gegner erreichen; die Volksrepublik oder Rußland könnten aber, aufgrund der geographischen Gegebenheiten, mit ähnlichen Waffen die Zentren der USA nicht treffen. Es sei denn, sie stellten eine Situation her wie Anfang der 1960er-Jahre und stationierten atomare Mittelstreckenraketen auf Kuba oder in einem anderen Nachbarstaat der USA. So eine Zuspitzung kann niemand wollen.

Atomare Abrüstung wäre das Gebot der Stunde, leider sind wir davon weiter entfernt als je zuvor. Die neuen Atomkriegsplaner in Washington, Brüssel, Paris, London und Berlin brauchen sich kaum noch um Proteste in der Bevölkerung zu sorgen.

Aus diesem Grund sind Rußland und auch China dabei, ihr atomares Abschreckungsarsenal deutlich aufzustocken und zu modernisieren. Wie Wladimir Putin eindringlich warnte, werden damit auch Europa und Ostasien wieder zum Ziel von Atomwaffen. Auf der strategischen Ebene erfüllen die neuen steuerbaren, hyperschnellen Raketen, Cruise Missiles, Unterwasserdrohnen und Weltraumgleiter den Zweck, die Raketenabwehr der USA überwinden zu können und das Gleichgewicht des Schreckens wieder herzustellen. Es ist – leider – das Einzige, was seit 1945 die Welt vor dem atomaren Untergang bewahrt hat.